Die fetten Jahre
Bauernkaten Hebeis. Die Bauern in Hebei gehörten nicht zu den ärmsten des Landes, aber für Chen waren ihre Hütten die schäbigsten von allen. Man bemühte sich am wenigsten um eine halbwegs ansehnliche Gestaltung, eine Generation nach der anderen hauste in denselben ärmlichen Baracken. Was Ästhetik anging, schienen die Bauern von Hebei die genügsamsten von allen zu sein. Das Gute-Laune-Dorf bestand zwar aus den gleichen einfachen Bauten, doch hatten die Bewohner sie von außen mit bunten Wandmalereien verziert. Sie sahen ein wenig aus wie die Bilder, mit denen die Chinesen üblicherweise zu Neujahr ihre Wohnungstüren schmücken, jedoch waren sie künstlerisch wesentlich freier gestaltet. Sie hatten etwas sehr Charmantes, und in seiner momentanen Gemütsverfassung meinte Chen, die Liebe erkennen zu können, die sich darin ausdrückte. Manche Häuser waren sehr aufwändig, andere weniger dicht bemalt. Eine Wand war lediglich mit einer mannshohen bunten Blume geschmückt. Diese zusätzliche Verzierung und der darin erkennbare Sinn für Ästhetik waren absolut ungewöhnlich für die Bauern dieser Region. Wenn sich die Einwohner dieses Dorfes in Wandmalerei versuchten, dann trug es seinen Namen vielleicht wirklich zu Recht.
Es wäre schon interessant gewesen, diese malenden Bauern mit eigenen Augen zu sehen, dachte Chen, aber wenn es nicht sein sollte, dann eben nicht.
»Was ist, gehen wir?«, fragte er Fang Caodi, der gedankenverloren das Flusstal hinauf in die Ferne blickte.
»Vor nicht mal einem Jahr waren sie noch hier.«
»Denk gar nicht erst daran, mich jetzt noch fünf Kilometer den Fluss raufschicken zu wollen. Nicht mal einen schaffe ich noch!«
»Es muss auch eine Straße geben, die zur Chemiefabrik führt …«
»Die Straße kommt sicher aus Shanxi, auf der anderen Seite der Berge«, sagte Chen, um ihm den Gedanken an einen Besuch dort ein für alle Mal auszutreiben. »Mir fallen hundert Gründe ein, warum die Menschen das Dorf verlassen haben könnten, und keiner hat etwas mit dem Chemiewerk zu tun. Du brauchst nicht gleich hinter allem finstere Machenschaften zu wittern.«
Fang Caodi stand weiter bewegungslos da. Chen spielte seinen Trumpf aus: »Fang, du weißt doch, dass deine Vorahnungen nicht ändern können, was geschehen wird.«
»Sie haben recht«, sagte Fang Caodi resigniert. »Gehen wir.«
***
Die Pekingerin Wei Xihong, auch Xiaoxi genannt, im Internet neuerdings unter dem Pseudonym kornichtot unterwegs, hatte zuletzt im – nach dem mythischen ersten Kaiser Chinas benannten – Reich des Gelben Kaisers in Xinzheng als Eisverkäuferin gearbeitet. Davor hatte sie in drei anderen Vergnügungsparks, die sich alle nach dem Schöpfer der Welt in der chinesischen Mythologie als Heimat Pangus bezeichneten, Eintrittskarten verkauft. In Anbetracht ihrer bisherigen geografischen Route zog sie konsequenterweise nach Jiaozuo weiter, in der Antike als Huaichuan bekannt. Es gab dort sechzig historische Stätten: Der Legende nach hatte der Yan-Kaiser Shennong, der mythische Begründer von Ackerbau und chinesischer Medizin, ganz in der Nähe auf seinem Berg die Fünf Getreidesorten ausgesät und die Hundert Heilkräuter gekostet. Es verstand sich daher von selbst, dass zig Themenparks sich dieses Mythos’ bedienten. Es war ein Leichtes, hier einen Job in der Tourismusbranche zu finden. Aber nach ihrer Ankunft hatte sie sich nicht wie sonst gleich auf die Suche nach Arbeit gemacht, sondern war verstört und ziellos durch die Stadt gelaufen. Der Name Jiaozuo hatte Erinnerungen in ihr geweckt, die sie lange verdrängt hatte.
Frisch von der Universität war sie als Gerichtsschreiberin dem Bezirksgericht einer Kreisstadt nahe Peking zugeteilt worden, wo sie während der Anti-Kriminalitätskampagne bei der Verurteilung »Krimineller« mitwirken sollte. Die übrigen Mitglieder des sechsköpfigen Gremiums aus Vertretern von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht hatten ihre mangelnde Einsatzbereitschaft kritisiert und als Beispiel Städte wie Zhengzhou, Kaifeng oder Luoyang angeführt, wo man pro Hinrichtungstermin vierzig bis fünfzig Delinquenten zusammenbekam. Selbst in einem Kaff wie Jiaozuo wären es dreißig pro Woche, hatten sie gesagt. Wei Xihong wusste nicht warum, aber Luoyang, Kaifeng und Zhengzhou hatten keine Erinnerung an jene Zeit in ihr hervorgerufen; in Jiaozuo jedoch war mit einem Mal alles wieder hochgekommen.
Was damals geschehen war, hatte ihr ganzes bisheriges Leben, ihre
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