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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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herbei und der Blockwart des Straßenviertels wurde ebenfalls gerufen. Sie rieten der Vermieterin allen Ernstes, mir Geld für ein Hotel zu geben; Hauptsache, ich verließe die Nachbarschaft. Ich reichte der Vermieterin die Schlüssel und sagte: ›Geben Sie mir meine Kaution wieder, dann verschwinde ich.‹«
    »Worauf willst du eigentlich hinaus?«, fragte Chen.
    »Angst«, sagte Fang Caodi. »Die Leute hatten irrationale Angst. Mindestens eine Woche lang ging das so. Es hieß, China stünde vor dem Chaos, der Staatsapparat sehe tatenlos zu, Anarchie drohe auszubrechen. Zum Glück waren die Wanderarbeiter nicht in die Städte zurückgekehrt, sonst wäre die Situation wohl eskaliert. Trotzdem hätte ich Zhongshan nicht verlassen sollen. Wenn selbst dort die Angst um sich griff, hätte ich mir denken können, dass es tiefer im Inland noch schlimmer sein würde. Ich überquerte Berge und durchfuhr Täler, mehr als einmal jagte man mich wie einen Bettler davon. Doch selbst angesichts der drohenden Gefahr hatte ich nichts anderes im Kopf, als weiter das Land zu bereisen. Ich wollte nach Jiangxi, um die Jinggang-Berge und den Drache-Tiger-Berg zu sehen; aber hinter Zhaoguan, wo die drei Provinzen Guangdong, Hunan und Jiangxi aufeinandertreffen, am Rande eines winzigen Kaffs namens Meishang-Ah, mussten alle Passagiere des Überlandbusses, in dem ich fuhr, aussteigen. Auswärtige durften das Dorf nicht betreten. Es war nicht etwa die Polizei, die sich uns in den Weg stellte. Die Einwohner selbst hatten die Straßensperre organisiert. Ich machte mich aus dem Staub, schlüpfte bei einer Bauernfamilie unter, doch nach zwei Tagen holte mich die Polizei. Meine ›Gastgeber‹ hatten mich angezeigt. Die Volksbefreiungsarmee war in die Städte eingerückt, die Repression hatte begonnen.
    Die Polizisten sahen, dass ich einen amerikanischen Pass hatte. Ich war zwar schon vor Jahren nach China zurückgekehrt und hätte auch gerne wieder die chinesische Staatsbürgerschaft angenommen, aber für US-Bürger ist es unwahrscheinlich schwierig, sie zu bekommen, schwieriger als umgekehrt. Um eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, nutzte ich einen Trick: Ich habe in Peking eine Handelsfirma registrieren lassen, habe mich selbst als Geschäftsführer eingestellt, und dann meinen Vertrag immer wieder erneuert. Von Zeit zu Zeit musste ich kurz nach Macao oder Hongkong und dann erneut aufs Festland einreisen; abgesehen davon konnte ich mich aber langfristig in China aufhalten.
    Aber zurück zu meiner Verhaftung: An meinem ›Prozess‹ auf der örtlichen Polizeiwache waren sechs Personen beteiligt, jeweils zwei Vertreter der Polizei, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts. Es war eine sehr dominante Staatsanwältin dabei und eine junge, zierliche Richterin. Die Staatsanwältin ergriff als Erste das Wort: ›Für mich siehst du nicht wie ein Amerikaner aus. Lass’ mal dein Englisch hören!‹
    Ich rezitierte, sehr flüssig, eine Strophe aus Blowin’ in the Wind. Die Staatsanwältin gab sich wenig beeindruckt: ›Du bist eindeutig ein Chinese! Dachtest wohl, du könntest uns mit ein paar Brocken Englisch reinlegen, was? Aber nicht mit uns! Wieso versteckt sich ein Amerikaner auf einem Bauernhof? Was will ein Ami überhaupt hier, wo es weder Sehenswürdigkeiten noch Investitionsprojekte gibt? Für mich siehst du aus wie ein ausländischer Spion!‹
    Ihr männlicher Kollege hakte gleich ein: ›Spione sind bei Dingfestmachung unverzüglich zu erschießen.‹
    Die Staatsanwältin blickte zu der jungen Richterin: ›Irgendwelche Einwände?‹
    ›Erschießung kommt nicht in Frage.‹
    ›Was soll das heißen, Erschießung kommt nicht in Frage?‹, rief der Staatsanwalt und zitierte: Bei Kapitalverbrechen ist schnell und hart zu urteilen!
    Die Richterin blieb ebenfalls unnachgiebig: ›Die Ergreifung eines amerikanischen Spions muss nach oben gemeldet werden.‹
    Beide Staatsanwälte protestierten lautstark: Das würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen!
    ›Dann eben eine Haftstrafe‹, schlug der Staatsanwalt vor. ›Auch eine Haftstrafe kommt nicht in Betracht‹, sagte die Richterin.
    ›Ach nein?‹, fragte der Staatsanwalt. ›Die Amis schicken Spione her und wir lassen uns das eben nicht gefallen! Wo ist da das Problem?‹
    ›Natürlich dürfen wir uns das nicht gefallen lassen‹, gab die Richterin zurück, ›aber genau so wenig dürfen wir gleich überreagieren! Wenn er ein Spion ist, ist er zu melden! Wenn nicht, ist er

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