Die fetten Jahre
Wertvorstellungen und beruflichen Ziele völlig auf den Kopf gestellt. Damals hatte sich gezeigt, dass sie nicht das Zeug dazu hatte, eine staatstreue Richterin zu sein.
Wie von einer Krankheit geschüttelt, hatte Wei Xihong bei ihrem Aufenthalt in Jiaozuo zwei Tage in einem Hotel verbracht, ohne das Bett zu verlassen. Dann hatte sie eine Entscheidung getroffen. Hier in Jiaozuo wollte sie den Schatten der Anti-Kriminalitätskampagne von ’83 ein für alle Mal abstreifen, er sollte sie nicht länger verfolgen! Am Morgen des dritten Tages hatte sie einen Bus in Richtung des Kreises Wen bestiegen und war so schließlich in einen Ort namens Wenquanzhen gelangt, Stadt der heißen Quellen. Ohne ein bestimmtes Ziel war sie umhergewandert und dabei an einem großen Haus mit Vorhof vorbeigekommen, dessen Tor weit offen stand. Davor und im Hof hatte eine größere Schar von Menschen gewartet, alle mit gütigem Blick und ordentlicher Kleidung. Über dem Tor war ein Neujahrs-Spruchband angebracht gewesen. Die obere Zeile lautete: Im Himmel erwächst ein Baum der Erkenntnis, durch Glaube, Liebe und Hoffnung. Und darunter: Auf Erden entspringt ein Quell des Lebens, für Körper, Seele und Geist. War das etwa eine Hauskirche?, hatte Wei Xihong sich gefragt. Existierten die nicht bloß im Verborgenen, im Untergrund? Wie kam es, dass man sich hier so unverhohlen zu erkennen gab?
Die Leute vor dem Tor und im Hof waren nach und nach im Hausinneren verschwunden, nur ein einzelner Mann war am Eingang zurück geblieben. Er hatte zwei Schritte auf Wei Xihong zugemacht, und erst da hatte sie bemerkt, dass er ein lahmes Bein hatte. »Komm herein«, hatte er sie eingeladen. Zögernd hatte sie den Hof betreten, wo ihr Blick auf einen Schriftzug über dem Eingang des Hauses gefallen war: Ein Weizenkorn, das zur Erde fällt, erstirbt nicht.
Wei Xihong kannte Zitate wie Geist stirbt nicht oder Masse lässt sich nicht vernichten – aber zu behaupten, dass Weizenkörner nicht starben, war ihr ziemlich materialistisch erschienen.
***
Hauptverantwortlicher bei der Weizenkorn-Kirche war ein Mann namens Gao Shengchan. Sein Name ließ darauf schließen, dass seine Eltern Funktionäre gewesen waren, sonst hätten sie ihrem Kind wohl kaum – im Einklang mit den politischen Zielen der Zeit – einen solchen Namen gegeben: Shengchan – Produktion.
Vor zwei Jahren war Gao Shengchan zusammen mit Li Tiejun und drei weiteren Gefährten wegen Gründung einer Untergrundkirche in Jiaozuo mit der staatlichen Drei-Selbst-Bewegung aneinandergeraten und auf Anordnung der örtlichen Religionsbehörde in Haft genommen worden. Im Gefängnis hatten sie sich die Gefallenen Weizenkörner genannt, in Anlehnung an das Bibelzitat, dass ein Weizenkorn, so lange es lebt, bloß ein Weizenkorn bleibt, durch seinen Tod in der Erde jedoch viele neue Körner aus ihm hervorgehen. Sie waren bereit, als Märtyrer zu sterben, und die Gefangenschaft hatte ihre Entschlossenheit, niemals das Werk des Herrn aufzugeben, bloß noch mehr gefestigt. Nach ihrer Freilassung waren sie furchtloser denn je gewesen. Zunächst hatte Li Tiejun, der es als Geschäftsmann zu Geld gebracht hatte, in Wenquanzhen ein Stück Land gekauft und ein großes Haus darauf gebaut, in dem die erste Gemeinde entstanden war. Im Anschluss daran hatten die anderen drei in den Orten rund um Jiaozuo drei weitere Gemeinden begründet und die Stadt regelrecht eingekreist. Gao Shengchan pendelte zwischen den vier Gotteshäusern hin und her und hielt Predigten.
Anders als vor zwei Jahren ließen das Religionsamt, die Drei-Selbst-Kirche und die Polizei sie einfach gewähren. Noch bemerkenswerter war jedoch, dass ihre Gemeinden sich vor Eintrittswilligen kaum retten konnten.
Inzwischen kamen die Menschen in Scharen zu den täglichen Bekenntnis- und Bibelgruppen, die in der Wenquanzhen-Gemeinde angeboten wurden; statt einem gab es sonntags nun drei Gottesdienste mit jeweils bis zu zweihundert Besuchern. Jeden Tag brachten die treuen Gläubigen neue Beitrittswillige mit, andere fanden von alleine den Weg in die Kirche, so wie Wei Xihong.
Gao Shengchan beunruhigte das ein wenig. Er befürchtete, der große Zulauf würde nicht unbemerkt bleiben. Doch Li Tiejun und die übrigen drei Mitbegründer legten es geradezu darauf an und stürmten mit unbeirrbarem Gottvertrauen voran. Selbst wenn Gao Shengchan es versucht hätte – sie waren nicht aufzuhalten. So war er beispielsweise dagegen gewesen, als Li Tiejun vorgeschlagen
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