Die fetten Jahre
war daran außergewöhnlich? Was zählte, war die Gegenwart, und in der herrschte überall auf der Welt eine heißkalte Wirtschaftseiszeit, während Chinas fette Jahre gerade erst begonnen hatten.
»Wo bist du, Xiaoxi?«, dachte Chen voller Sehnsucht. »Hoffentlich kannst du der Vergangenheit Lebewohl sagen und die guten Zeiten genießen. Wir könnten sie zusammen genießen, wenn du willst …«
Vielleicht lag es an den Schokoladenkeksen, auf jeden Fall hatte Chens Laune sich gebessert. Er war entschlossener denn je, Xiaoxi zu finden.
Jetzt im Frühsommer hatte so ein Abendessen im Freien und bei Kerzenschein etwas sehr Behagliches. Chen nahm am Tisch Platz und Fang Caodi begann, ihm ein Gericht nach dem anderen aufzutischen. Dazu spielte Zhang Dou etwas Atmosphärisches auf der Gitarre, und einige Meter neben ihnen begann Miaomiao, mit ein paar Hunden und Katzen zur Musik zu tanzen. Chen probierte das Essen; es war wirklich nicht schlecht.
»Welche Küche ist das?«, fragte er kauend.
»Von jedem ein bisschen«, antwortete Fang. »Hier haben wir eingelegte Paprikaschoten nach Sichuan-Art, Schwarze Bohnen aus Henan, Flusskrebspaste aus Guangdong, thailändischen Zitronengraseintopf mit selbst gezogenem Koriander, Basilikum, Zitronenblättern und Zwiebeln, alles biologisch angebaut. Bitte, bedienen Sie sich.«
Während des Essens unterhielten sie sich sehr angeregt, was Chen nicht erwartet hatte. Am meisten überraschte ihn der Grund, warum Fang ihn so verehrte. Chen hatte immer geglaubt, es sei sein Schreibstil gewesen, mit dem er Fang Caodi gewonnen hatte; doch es stellte sich heraus, dass es vor allem einem Satz von ihm zu verdanken war, den er selbst völlig vergessen hatte. Bei ihrem Interview im Jahr ’89 hatte Fang Caodi ein ums andere Mal erwähnt, wie treffsicher seine Vorahnungen stets gewesen waren. Als er 1971 auf die Straßensperren nahe dem Sommerpalast gestoßen war, hatte er gleich geahnt, dass entweder Mao oder Lin Biao etwas zugestoßen sein musste. ’72, als er in den Chungking Mansions wohnte, sah er einmal vom Fenster aus, wie jemand sich von einem Gebäude aus auf die Nathan Road hinabstürzte, und wusste gleich, dass in Hongkong etwas passieren würde; wenig später stürzte der Hongkonger Aktienmarkt von 1700 auf knapp über 100 Zähler ab. Und als alle in der Hippie-Kommune ausgelassen das Ende des Vietnamkriegs feierten, sah Fang Caodi vor seinem inneren Auge bereits Ströme von Flüchtlingen das Land verlassen und sollte wenig später Recht bekommen.
Er hatte erzählt und erzählt, bis Chen ihn unterbrochen und gefragt hatte: »Was haben diese Vorahnungen für eine Bedeutung? Haben sie auch nur bei einem dieser Ereignisse etwas bewirkt? Konnten Sie dadurch auch nur eine Katastrophe verhindern?«
Mit diesem einen Satz habe Chen ihn damals aus seinen Illusionen gerissen, sagte Fang Caodi. Wenn er es sich genau überlegte, dann hatten seine Vorahnungen, die ihn stets von allen anderen Menschen zu unterscheiden schienen, weder das Weltgeschehen beeinflusst, noch an seinem eigenen Schicksal auch nur das Geringste geändert. Sie waren im Grunde völlig bedeutungslos. Von da an habe er sich nichts mehr aus seinen Vorahnungen gemacht und ihretwegen auch nicht mehr diesen sinnlosen Druck gespürt; alles dank dieses einen Satzes von Chen. Das zeige, fand Fang, was für ein großer Mann Chen sei.
»Bruder«, verkündete Fang dem jungen Zhang Dou, »Herr Chen ist weiser als du und ich zusammengenommen, ist dir das klar?«
Chen genoss das Essen mit Fang und seiner »Familie« trotz seiner anfänglichen Skepsis nun sehr, und Fangs Lob beschämte ihn so, dass er nicht anders konnte als aufzustehen und ihn in die Arme zu schließen.
Chen spürte mehr und mehr ein Gefühl von Glück und Sorglosigkeit, wie er es seit einiger Zeit vermisste, in sich aufsteigen und erzählte den beiden sogar von seiner Bekanntschaft mit He Dongsheng, dem schlaflosen Staatsmann; dass sie jeden ersten Sonntagabend im Monat zusammen alte Filme schauten; dass He Dongsheng dabei jedes Mal einschlief, obwohl er sonst an Schlaflosigkeit litt, und dass er nachts oft ziellos durch die Straßen fuhr und seine Sekretärin ihm dann mitten in der Nacht aus der Patsche helfen musste, wenn er wieder einmal in eine Verkehrskontrolle rauschte.
Dann spielte Zhang Dou auf der Gitarre und Fang Caodi sang dazu. Chen erkannte das Lied sofort: Blowin’ in the Wind von Bob Dylan. Fang Caodis Stimme hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit
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