Die fetten Jahre
hatte, zu Neujahr christliche Spruchbänder über dem Tor aufzuhängen, er hielt das für viel zu auffällig. Man konnte in China mit einigem davonkommen, aber man durfte den Bogen auch nicht überspannen. Am Ende hatte Li Tiejun sich trotzdem durchgesetzt. Ein Produkt allein genüge nicht, hatte er gemeint, man müsse es auch bekannt machen; die Spruchbänder seien ihre Werbebanner. Li Tiejuns Worte hatten Gao Shengchan sehr gerührt: »Was wir tun, ist ehrbar und rechtschaffen; Heimlichtuerei lehne ich ab.« Und er hatte Recht behalten, viele Menschen wurden durch das Banner auf die Kirche aufmerksam, kamen zum Gottesdienst und schlossen sich der Gemeinde an.
Auch Beamte der Religionsbehörde hatten schon vorbeigeschaut und ein paar Fragen gestellt, jedoch sehr höflich und zurückhaltend. Sie hatten nichts beanstandet und im Folgenden auch nichts weiter unternommen. In den letzten zwei Jahren war die Regierung wirklich sehr viel weicher geworden. Als Li Tiejun ein Spruchband mit Weizenkörner, die zur Erde fallen, sterben nicht über den Hauseingang hängen wollte, hatte Gao Shengchan zugestimmt.
Gao Shengchan hatte Pädagogik studiert und bis zu seiner Inhaftierung als Lehrer in einer Mittelschule gearbeitet; bevor er zum Glauben gefunden hatte, hatte er ein Abonnement des Dushu-Magazins bezogen. Er war ein gebildeter Mann, anders als Li Tiejun und die anderen, die alle aus bäuerlichen Verhältnissen stammten, daher war er auch nicht so unbeschwert und machte sich eher Sorgen als sie. Er fragte sich, ob die gegenwärtige Toleranz seitens der Regierung dauerhaft sein würde, denn landauf, landab entwickelten sich Religionsgemeinschaften in atemberaubenden Tempo, allen voran Buddhisten und Protestanten. Hauskirchen und Drei-Selbst-Bewegung hatten 2008 zusammen insgesamt fünfzig Millionen Gläubige umfasst. Inzwischen, überschlug Gao Shengchan, mochten es gut und gerne bereits hundertfünfzig Millionen sein! Ein Großteil davon war in den letzten zwei Jahren hinzugekommen und mehr als achtzig Prozent des Zuwachses entfiel auf die Untergrundkirchen. Seit Gründung der Volksrepublik hatte, abgesehen von der Arbeiter- und Bauernschicht, noch nie eine einzelne Gruppe einen so großen Anteil der Bevölkerung ausgemacht. Bei der Unterdrückung von Grundbesitzern, reichen Bauern, Bourgeoisie oder der politischen Rechten hatte stets eine überwältigende Mehrheit über eine verschwindend kleine Minderheit dominiert. Heute stand eine zersplitterte Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen hundertfünfzig Millionen vereinten Gläubigen gegenüber. Konnte die Regierung es sich da noch erlauben, gegen die Christen genauso radikal vorzugehen wie gegen die Anhänger der Falun-Gong-Bewegung? So viele Christen mussten die Kommunistische Partei doch beunruhigen. Gao Shengchan wünschte sich einerseits, dass der Anteil der Christen an der Bevölkerung weiter zunahm; andererseits fürchtete er ein plötzliches Umschwenken der Partei. In seinen Gebeten bat er den Herrn, den Christen in China noch zehn Jahre Zeit für ihre Entwicklung zu schenken. Er gelobte, ihre Zahl in zehn Jahren auf dreihundertfünfzig Millionen zu bringen, das entspräche einem Viertel der zukünftigen Bevölkerung, und damit wären die Christen – so hoffte er – endgültig in Sicherheit.
Damit die Entwicklung dauerhaft weitergehen konnte, trat er dafür ein, dass jede der verschiedenen christlichen Strömungen sich fürs Erste auf die eigenen Angelegenheiten konzentrierte. Evangelikale, Libertarianer, Fundamentalisten und Charismatiker sollten sich untereinander nicht austauschen und auch innerhalb einer Glaubensgemeinschaft sollte keine allzu große Vernetzung bestehen. Bei der Regierung durfte nicht der Eindruck entstehen, dass die Hauskirchen provinzübergreifende oder gar landesweite Strukturen aufbauten. Viele Glaubensbrüder verstanden seine Sorge nicht; es hieß, er sei nicht offen genug, eigenbrötlerisch und selbstbezogen oder gar nur am Schutz seiner persönlichen Einflusssphäre interessiert. Gao Shengchan entgegnete auf solche Vorwürfe immer, auf die vertikale Begegnung mit Gott käme es an, nicht auf die horizontale Vernetzung.
Was er sonst noch tun konnte, war, Aufsätze zu verfassen, deren eigentlicher Adressat die Regierung war, und sie unter den Gläubigen zu verbreiten. Sein wichtigstes Credo lautete: Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Die chinesischen neuen Christen strebten nicht nach weltlicher Macht, sondern
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