Die fetten Jahre
Weizenkorn-Kirche bereits die »patriotische Drei-Nein-Bewegung« nannten. Zum Glück hörten Li Tiejun und die anderen bei wichtigen Entscheidungen wie diesen noch immer auf ihn, vor allem wegen der anhaltend guten Wirtschaftslage. Die Gläubigen spendeten viel und gerne, und man brauchte das Geld aus dem Ausland nicht, geschweige denn ein paar Bibeln.
Aber es gab noch einen kaum vermeidbaren Aspekt dieser positiven Entwicklung, der Gao Shengchan zuweilen Kopfzerbrechen bereitete. Mit dem Beitritt in die Kirche entstand ein starker Zusammenhalt zwischen den Gläubigen, bedingt durch gegenseitige Akzeptanz und gepaart mit christlicher Nächstenliebe; alle zogen an einem Strang, gaben aufeinander acht und halfen einander aus; wenn von den Brüdern und Schwestern jemand ein Problem hatte, dann leistete man ganz selbstverständlich Beistand. Vielerorts war es schon vorgekommen, dass Lokalpolitiker und Geschäftsleute beim Versuch, sich gemeinsam über die Rechte der Normalbürger hinwegzusetzen, auf den geballten Protest von betroffenen Kirchenmitgliedern samt der ihnen zu Hilfe geeilten Brüder und Schwestern aus der Gemeinde gestoßen waren. So etwas konnte bei den Funktionären leicht als Kampfansage der Gläubigen an die Herrschenden empfunden werden, und so waren die Hauskirchen einigen lokalen Kadern bereits ein Dorn im Auge, der einen erhöhten Druck auf die zuständige Religionsbehörde nach sich zog. Wenn solche Vorkommnisse überhandnahmen, konnte das eine Kehrtwende in der bislang toleranten Politik der Zentralregierung provozieren.
Aus diesem Grund war Gao Shengchans Freude über Wei Xihongs Erscheinen getrübt.
Er erinnerte sich an die plötzliche Wärme im Gesicht, die er bei ihrer ersten Begegnung gespürt hatte. Der Herr selbst musste sie zu ihm geführt haben und er dankte ihm dafür.
Er hatte in den zwei Jahren seit der Gründung der Weizenkorn-Kirche in Wenquanzhen an dieser Pforte stehend schon viele verirrte Schafe zurück in die Arme des Herrn geholt. Doch bei Wei Xihong war es anders – er hatte auf den ersten Blick gesehen, dass sie nicht von hier war. Es lag etwas Kultiviertes in ihrer Art und Gao Shengchan wusste gleich, dass sie zur gebildeten Schicht gehörte, so wie er selbst. Sie hörte aufmerksam zu, wenn er aus der Bibel las, und stellte stets kluge und wohl überlegte Fragen, ohne dadurch lästig zu werden. Was sie am meisten interessierte, war, wieso die Menschen Gott vertrauten; wieso Christen, obgleich in den Untergrund getrieben, nicht nur frei von Hass waren, sondern auch noch fröhlicher als gewöhnliche Leute?
»Weil wir Liebe in unseren Herzen tragen, weil wir unseren Herrn Jesus Christus gefunden haben«, hatte Gao Shengchan in seiner Predigt gesagt.
Wei Xihong gefiel die gegenseitige Fürsorge innerhalb der Gemeinde, sie erschien ihr so viel echter als die Klassensolidarität, die man ihr von klein auf eingetrichtert hatte. Diese Kameradschaft erinnerte sie an die intellektuelle Szene von Wudaokou in den achtziger Jahren; damals war eine ähnliche Verbundenheit zwischen den Menschen spürbar gewesen. Heute schien dies alles wie vom Winde verweht.
Wei Xihong stellte sich die Frage, ob in China die Menschen zum Durchhalten nicht auf den Glauben angewiesen waren. Unter den derzeitigen Bedingungen im Land, im derzeitigen System, in der derzeitigen Stimmung machte es die Gesellschaft einem nicht leicht, redlich und sich selbst treu zu bleiben. Welche moralischen Kräfte gab es schon noch, die einen dazu anhielten, ein guter Mensch zu sein? Ohne Glauben war es sehr schwer, gut zu sein.
Dennoch verspürte Wei Xihong nicht den Drang, sich dem Glauben hinzugeben. Sie hatte die Lehre von Materialismus und Atheismus von klein auf in sich aufgesogen und ihr Denkapparat wollte einen solchen Gedankensprung einfach nicht mitmachen, ihre Ratio widersetzte sich dem Konzept einer theistischen Religion.
Es gab nur einen in der Gemeinde, mit dem sie auf ihrem eigenen geistigen Niveau diskutieren konnte, und das war Gao Shengchan. Doch dieser war der wichtigste Prediger in allen vier Gemeinden der Weizenkorn-Kirche, und auch andere Hauskirchen in Jiaozuo und Henan luden ihn oft zu Vorträgen ein; er konnte daher nicht die ganze Zeit in Wenquanzhen bleiben. Also beschloss Wei Xihong, ihm zu folgen, wann immer sie konnte, um seinen Predigten zu lauschen und bei Gelegenheit ihre Fragen mit ihm zu diskutieren.
Es gab noch etwas, was Wei Xihong anfangs nicht so deutlich wahrgenommen hatte:
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