Die fetten Jahre
wirkten als stabilisierende Kraft in der Gesellschaft; die weltlichen Mächte sollten sich im Gegenzug jedoch ihrerseits nicht in religiöse Angelegenheiten einmischen. Er hoffte, dass er die Regierung dazu bewegen konnte, ihre alten Handlungsmuster zu verändern und eine Sichtweise zu akzeptieren, in der Politik und Kirche nebeneinander existieren konnten. Er wollte eine Brandschutzmauer zwischen Regierung und Religion errichten, denn gegenwärtig konnte die Entwicklung der Religion davon nur profitieren. Er führte unter verschiedenen Pseudonymen auch Blogs im Internet, in denen er die Forderung einiger Pekinger Wissenschaftler nach Desensibilisierung des Themas Religion unterstützte, denn in dieser Phase war das ebenfalls im Interesse des Christentums in China.
Doch Gao Shengchan war dagegen, während dieses Prozesses Druck auf die Regierung auszuüben, und unterstützte es nicht, wenn einige wenige intellektuelle Großstadtchristen danach riefen, die Hauskirchen anzuerkennen, zu legalisieren und sie aus dem Untergrund heraus in die Öffentlichkeit zu holen. Die Regierung würde die Hauskirchen auf keinen Fall anerkennen, die Desensibilisierung des Themas war das Äußerste, was man verlangen konnte. Ansonsten war es das Beste, wenn die Regierung sich weiter so stellte, als wisse sie nichts von den Glaubensgemeinschaften, das Religionsamt so tat, als hätte es noch nie von Kirchen außerhalb der Drei-Selbst-Bewegung gehört, und die weiter im Verborgenen wirkenden Hauskirchen nichts unternahmen, was die Regierung zum Handeln zwang. So konnten beide Seiten, Regierung und Christen, ihr Gesicht wahren und ohne Auseinandersetzungen koexistieren.
Vielleicht würde man einmal rückblickend sagen, dass der Protestantismus in China gerade jetzt die Phase seiner größten Reinheit erlebte, dachte Gao Shengchan. Denn mit Ausnahme der Drei-Selbst-Kirchen haftete ihm nach wie vor der Charme einer Subkultur an. Da die Gläubigen so gut wie keine weltlichen Vorteile davon hatten, einer Gemeinde anzugehören, kam der überwiegende Teil von ihnen einzig aus reinen, unverfälschten Motiven in die Kirche. Wirkliche Überzeugung, Glaube allein um des Glaubens Willen. Kirchenvorsteher und Helfer waren frei von Korrumpiertheit; wer nach Ruhm, Macht und Profit strebte, trat der Kommunistischen Partei oder einer Interessengruppe bei, ging zu den Triaden oder in die Unterhaltungsindustrie. Kaum ein Machthungriger würde sich der Religion als Plattform bedienen und wenn doch, dann bei einer der staatlich anerkannten Kirchen oder mittels einer selbstgegründeten Sekte. In Ländern wie den USA, in denen die christliche Religion eine zentrale Rolle spielte, ging es zwangsläufig auch in den Kirchen häufig in erster Linie um Ruhm, Macht, Profit und das Eigeninteresse bestimmter Gruppen. Gao Shengchan wünschte sich, dass das Christentum in China noch lange im Untergrund heranwachsen mochte und Karrieremenschen den Untergrundkirchen weiter fernblieben, auf dass die Gemeinden ewig in ihrer gegenwärtigen Reinheit verharrten.
Die Weizenkorn-Kirche genoss in christlichen Kreisen einiges Ansehen, zumal ihre Gründer bereits Haftstrafen hinter sich hatten. Oft bekamen sie Besuch von Glaubensbrüdern aus dem Ausland, sehr zur Freude Li Tiejuns und der anderen. Gao Shengchan beunruhigte das eher, denn womöglich würde die Partei sie der Kollaboration mit ausländischen Kräften bezichtigen. Beim Austausch mit den ausländischen Besuchern spürte Gao Shengchan zudem, dass das Christentum, obwohl es keine weltliche Macht anstrebte, dennoch ins politische Geschehen hineingezogen wurde. In Amerika zum Beispiel waren die Evangelikalen, was Abtreibung, Stammzellenforschung, Gleichstellung von Homosexuellen und andere Themen anging, zumeist eng mit den rechten Ausläufern der Republikanischen Partei verbandelt, welche wiederum die Interessen des Großkapitals vertraten. Besucher aus den USA hatten bereits versucht, Gao Shengchan zum Protest gegen die Politik der Geburtenplanung zu bewegen. Er hatte es abgelehnt, dazu Stellung zu beziehen, und daher hatte ihn bis heute noch niemand als herausragenden christlichen Intellektuellen und charismatischen Anführer einer chinesischen Untergrundkirche nach Amerika oder gar ins Weiße Haus eingeladen.
Gao Shengchan lehnte es standhaft ab, von ausländischen Gruppierungen Spenden oder illegal importierte Bibeln anzunehmen. Außerdem wurden keine nicht-chinesischen Gastprediger eingeladen, weshalb Kritiker seine
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