Die fetten Jahre
eine Art selbstgerechte, leicht euphorische Selbstgefälligkeit, die den Gläubigen in all ihrer Frömmigkeit und Demut zu eigen war und die Wei Xihong ein wenig verunsicherte. Gao Shengchan zeigte sich in seinen Predigten zwar oft sehr erregt, aber für gewöhnlich hatte er etwas sehr Nachdenkliches, ja Besorgtes an sich. Das und seine Behinderung gaben ihr das Gefühl, verstanden zu werden, und ließen sie umso mehr seine Nähe suchen.
Wei Xihong hatte keinerlei romantische Absichten; Gao Shengchan war jedoch innerlich von der Begegnung mit ihr sehr aufgewühlt und überlegte schon, ob vielleicht die Zeit gekommen war, eine Familie zu gründen. Doch Wei Xihong war noch keine getaufte Christin und die Beiträge, die sie unter dem Pseudonym kornichtot im Internet veröffentlichte, konnten die Regierung nicht kaltlassen – sie beschwor geradezu Probleme herauf. Und dann passierte die Sache mit Zhangjiacun.
In Zhangjiacun waren ein paar Bauern, die zur Weizenkorn-Gemeinde gehörten, kurz zuvor Opfer einer Verschwörung von Lokalregierung und Immobilienspekulanten geworden und hatten unrechtmäßig ihr Land verloren. Die Angelegenheit beschäftigte auch die Brüder und Schwestern in der Gemeinde, und als Wei Xihong davon erfuhr, war sie empört und legte den Opfern dar, dass so etwas gegen die geltende Rechtsauffassung verstieß. Sie ermutigte sie, für ihr Recht einzutreten. Als die Leute erfuhren, dass sie Jura studiert hatte, staunten sie nicht schlecht und bereiteten sogleich eine dreigliedrige Protestaktion vor: Erstens würden sie die Lokalregierung vor dem Kreisgericht verklagen, zweitens eine Demonstration vor dem Regierungsgebäude organisieren. Drittens würden sie ihre Aktionen filmen und die Aufnahmen zusammen mit den gesammelten Beweisen im Internet veröffentlichen; denn, so hatte Wei Xihong ihnen erklärt, das Internet war ein virtuelles Rechtsorgan, die Zentrale Disziplinarkommission in der Hand des Volkes! Doch damit war die Weizenkorn-Gemeinde im Begriff, sich in die Protestbewegung der enteigneten Bauern hineinziehen zu lassen. Die Folgen waren kaum abzuschätzen.
Gao Shengchan besprach die Angelegenheit mit Li Tiejun und bat ihn, die Gemeindemitglieder davon abzuhalten, die Sache an die große Glocke zu hängen und damit womöglich das Fundament der Kirche ins Wanken zu bringen. Doch wider Erwarten stellte Li Tiejun klar: »Mein lieber Herr Gao, ich will dir mal was sagen: Alle hier denken, dass du und Wei Xihong was miteinander habt, sie also quasi die Herrin des Hauses ist. Sie ist die Haut, du das Herz. … Alle glauben, dass Madame kornichtot in deinem Namen spricht!«
Unermessliche Liebe
Als sie die Grenze nach Henan überquerten, war Fang Caodi auf die vielen Zufälle zu sprechen gekommen, die sich in seinem Leben ereignet hatten. Ob Chen an Zufälle glaube? Als Schriftsteller kommt man ohne Zufälle gar nicht aus, dachte der, aber in der Realität wird ihre Bedeutung eher überschätzt. Doch wenn Fang Caodi am Reden war, kam es für gewöhnlich nicht wirklich auf Chens Antwort an, Fang würde das Gespräch auch so weiterführen. Seit sie am Morgen aus Peking losgefahren waren, hatte er ohne Pause geredet. Chen beantwortete die Frage daher lediglich mit einem kurzen Schulterzucken.
Fang Caodi sagte: »War mir klar, dass die Frage eigentlich überflüssig ist. Sie sind Schriftsteller, natürlich glauben sie an Zufälle. Sie wissen, dass das Leben genau wie ein Roman aus lauter Zufällen besteht. Sonst wären wir in diesem Moment nicht zusammen hier in Henan unterwegs.«
»Hast du mal die Zufallsromane von Paul Auster gelesen?«, fragte Chen neugierig.
»Nein, aber die Kriminalgeschichten von Matsumoto Seich¯o. Ohne Zufälle gäbe es keine Romane.«
»Romane sind das eine, aber in der Realität sind Zufälle vielleicht doch gänzlich vom Schicksal bestimmt. Oberflächlich reiner Zufall, doch dahinter womöglich höhere Fügung – Zeichen, denen wir nur die meiste Zeit keine Beachtung schenken.«
»Gut gesprochen, Herr Chen, gut gesprochen!«, rief Fang Caodi.
Chen sah auf sein Handy: »Ah, Zhang Dou hat auf KDnet, Sina.com und NBWeb neue Beiträge von kornichtot gefunden. In einem schreibt sie, dass sie endlich die Geister von ’83 ausgekehrt habe, und in einem anderen, dass sie sich ›im Kreis W der Stadt J in der Provinz H‹ für die Rechte der Bauern einsetzt. In Hu Yans SMS stand, dass die Weizenkorn-Kirche sich in Henan, und zwar in der Stadt Jiaozuo befindet! Damit hätten
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