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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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wir das H und das J, jetzt brauchen wir bloß noch den Kreis W zu finden!«
    »Kreis Wen, bestimmt ist es der Kreis Wen. Dort war ich nämlich schon mal. Was für ein Zufall, finden Sie nicht?«
    Chen sparte es sich, Fangs Logik zu widersprechen. Dann eben als Erstes der Kreis Wen. Er stellte das Navigationssystem auf den Ort Wenquanzhen im Kreis Wen ein.
***
    Gao Shengchans ehemaliger Studienkamerad Liu Xing war stellvertretender Leiter der Propagandaabteilung im Parteikomitee von Jiaozuo. Als Gao Shengchan ihn morgens anrief und sich mit ihm treffen wollte, willigte Liu Xing sofort ohne zu zögern ein: »Lass uns im Hotel Yiwan zu Abend essen und in Ruhe ein bisschen schwatzen.« Vor zwei oder drei Jahren hätte Liu Xing es vermieden, sich in aller Öffentlichkeit zusammen mit Gao Shengchan sehen zu lassen, aber seit er vor Kurzem bei der Ablösung der Lokalregierung nicht in ein höheres Amt befördert worden war, wusste er, dass seine Parteikarriere hier ohnehin endete. Er war fünfzig Jahre alt, für ihn würde es keine weitere Aufstiegschance mehr geben. Sollte man ihn doch mit Gao Shengchan zusammen sehen. War es etwa verboten, mit einem alten Studienfreund essen zu gehen?
    Der Abstecher ins Gute-Laune-Dorf hatte Fang Caodi und Herrn Chen mehrere Stunden im Zeitplan gekostet und es war bereits weit nach neun Uhr, als sie Jiaozuo erreichten. Es war zu spät, um noch bis Wenquanzhen weiterzufahren, und so blieb den beiden nicht viel anderes übrig, als sich für eine Nacht in der Stadt einzuquartieren. Während Fang Caodi auf Herrn Chens ausdrücklichen Wunsch hin an der Rezeption des Vier-Sterne-Hotels Yiwan stand und ein Zimmer bestellte, saßen Liu Xing und Gao Shengchan in einem Separée des chinesischen Restaurants ein paar Stockwerke höher bei der dritten Runde Schnaps und kamen gerade auf das eigentliche Thema zu sprechen.
    Gao Shengchan erzählte von dem Problem, das seine Kirche in letzter Zeit beschäftigte: Ein paar Brüder und Schwestern aus Zhangjiacun seien ihrer Rechte beraubt worden und möglicherweise würde sich die Sache jetzt ernsthaft zuspitzen. Religion sei Angelegenheit des Religionssausschusses und hätte mit Liu Xings Bereich nichts zu tun, daher könne er mit ihm ja ruhig darüber sprechen, unter alten Freunden. Gao Shengchan wusste, dass er Liu Xing auf gar keinen Fall offen um Rat fragen durfte, denn dann würde dieser dicht machen und nicht mit einer ehrlichen Antwort rausrücken. Er schilderte also lediglich die Lage in seiner Kirche, so als erwarte er gar keine Reaktion, und als er geendet hatte, goss er die nächste Runde Schnaps ein, schwatzte über ein paar Belanglosigkeiten und wartete ab, ob und wie Liu Xing sich zu der Angelegenheit äußern würde.
    Liu Xing hatte zwar schon einiges getrunken, aber durch die vielen Jahren als Funktionär war er bestens darin geübt, seine Worte so zu wählen, dass sie absolut wasserdicht waren und niemand ihm einen Strick daraus drehen konnte. Er erzählte von einem Dokument aus der Zentrale, das gegenwärtig Pflichtlektüre für alle Ebenen der Lokalregierungen war und dessen Inhalt sogar abgeprüft wurde. Er konnte es inzwischen auswendig:
    »Der Leitgedanke unserer Partei für die Regierungsführung in der gegenwärtigen Phase lautet: gutes Regieren im Sinne des Volkes. Die Beziehung der Kader zu den Massen ist zu pflegen, Kader sind Diener des Volkes, das Volk ist den Kadern Vater und Mutter zugleich. Die internen Widersprüche im Volk müssen auf die richtige Weise angegangen werden, Mechanismen zur Auflösung von gesellschaftlichen Konflikten sind aufzubauen, ein Frühwarnmechanismus für den Fall einer Gefährdung der Stabilität ist einzurichten. Jeglicher Form von geplanten oder spontanen unerlaubten Massenereignissen ist mit Nachdruck gegenzusteuern. Gesellschaftliche Harmonie und Stabilität sind zu wahren. Jegliche illegalen Aktivitäten müssen strengstens vermieden und den Gesetzen entsprechend mit aller Härte bekämpft werden. Die Wahrung der Grundlagen des Systems und die nationale Sicherheit stehen bei den Kerninteressen Chinas zu jeder Zeit an allererster Stelle.«
    Anders ausgedrückt: Die Regierung sollte als Problemlöser für die Belange der Bevölkerung auftreten. Massendemonstrationen würden das harmonische Bild empfindlich stören, deshalb war es äußerst wichtig, dass die Funktionäre sich nicht den Zorn des Volkes zuzogen und alles taten, um Massenereignissen vorzubeugen, oder – falls das nicht gelang – sie

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