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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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schnellstmöglich abzuwenden. Gelang ihnen das nicht, hatten sie persönlich die Konsequenzen zu tragen. Großen Ärger minimieren, kleinen Ärger ganz kaschieren, war daher die Devise.
    Was bedeutet Einparteiendiktatur? Diktatur bedeutet, dass die Regierungspartei die absolute Macht besitzt; der Staatsapparat kann jederzeit rigoros ohne Einwilligung des Volkes und ohne Beschränkung durch das Volk gegen die Bevölkerung oder Teile der Bevölkerung eingesetzt werden, um seinen Willen durchzusetzen. Aber wenn die Regierungspartei keine Kontroversen wünscht, dann muss sie dafür Sorge tragen, dass sich die Menschen von Partei und Staat in allen Belangen umsorgt fühlen.
    Jetzt war so eine Zeit. Solange niemand die Kerninteressen der Kommunistischen Partei antastete und am grundlegenden Einparteiensystem wackelte, fürchtete sie sich nicht vor etwas Flexibilität und demonstrativer Milde. Gao Shengchan wusste das nur zu gut. Dass sich die Kirche in den letzten zwei Jahren ungestört entwickeln konnte, war eben dieser Politik zu verdanken. Die Funktionäre hatten Angst, dass es im eigenen Zuständigkeitsbereich zu Massenereignissen kam, die sie womöglich Amt und Würden kosteten, also wollte niemand aus Versehen in ein Wespennest stechen. Jede Untergrundkirche war ein solches Wespennest.
    Liu Xing hatte seine Worte bewusst gewählt und Gao Shengchan, der mit den sprachlichen Codes seines alten Freundes vertraut war, verstand sie sehr genau zu deuten: Jetzt, da Volk und Funktionäre sich gleichermaßen voreinander fürchteten, würde die Nachricht über eine drohende Protestaktion die Offiziellen zum unmittelbaren Handeln zwingen, um die Situation so früh wie möglich zu entschärfen. Kurz vor einem Protest hatten beide Seiten noch Spielraum; wenn der Unmut der Massen erst einmal entfesselt war, waren die Folgen jedoch kaum abzusehen. Vielleicht würde man die Demonstranten wegen Vandalismus einkerkern und den Protest damit erstickt bekommen; beide Seiten würden Verletzungen davontragen, aber selbst wenn letztendlich auch ein paar Funktionäre ihren Hut nehmen mussten – geholfen wäre damit im Grunde niemandem.
    Doch wem konnte Gao die Nachricht über den bevorstehenden Protest zuspielen? Man durfte es nicht zu sehr an die große Glocke hängen, sonst verloren die Funktionäre ihr Gesicht; aber wenn die Nachricht nicht die richtige Stelle erreichte, verfehlte sie ihre Wirkung. Liu Xing zum Beispiel würde so tun, als wisse er von nichts, denn schließlich betraf die Sache nicht seinen Zuständigkeitsbereich. Gao Shengchan nahm sich etwas Obst vom Dessertteller und grübelte darüber nach, wen eine solche Information wohl am ehesten nervös machen würde.
    Eigentlich wäre die Bezirksregierung am direktesten betroffen, aber wenn die nicht ohnehin nur aufs Geld aus gewesen wäre, hätte sie gar nicht erst gemeinsame Sache mit den Spekulanten gemacht und die Menschen so gegen sich aufgebracht. Angesichts gigantischer Profite würden diese Politiker erst weinen, wenn sie den Sarg erblickten, wie man in China sagte – sie würden erst einlenken, wenn der Schaden bereits angerichtet war. Sie würden so schnell keine Zugeständnisse machen, man musste sie schon mit einer echten Massendemonstration konfrontieren, damit sie vielleicht ein Einsehen haben würden. Aber genau das wollte Gao Shengchan im Interesse der Kirche vermeiden. Wenn man die Information richtig platzieren wollte, überlegte er, dann musste man eine Ebene höher zur Kreisregierung gehen.
    Als wolle er das Thema wechseln, sagte er beiläufig: »Unser Kreisvorsteher Yang ist ein ziemlich tüchtiger Mann, auf mich macht er jedenfalls einen sehr guten Eindruck.«
    Auf diesen Satz hatte Liu Xing gewartet. Er nahm sogleich den Faden auf und sagte: »Jaja, jung und vielversprechend, gerade mal Anfang dreißig. Der Knabe hat noch eine große Karriere vor sich.«
    Gao Shengchan verstand. Liu Xing hatte ihm einen Tipp gegeben: Er sollte sich an diesen für alle Landkreise verantwortlichen und um sein Weiterkommen besorgten Nachwuchspolitiker wenden.
    Liu Xing zeichnete mit der Hand einen Bogen in die Luft und sagte: »Wusstest du, dass unser Bürgermeister von Jiaozuo aus Fujian hierhergekommen ist? Er hat Yang befördert. Und wusstest du außerdem, dass der Bürgermeister beim nächsten Postenwechsel in die Provinzregierung gehen wird?«
    Gao Shengchan war bewegt von so viel Offenheit. Liu Xing war wirklich ein Freund. Der Bürgermeister war von außerhalb

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