Die Feuer von Córdoba
alt, sehr alt. Beinahe zärtlich fuhr Anne mit dem Finger die feinen in das Gold geprägten Linien entlang. Seit dem Aufwachen an diesem Morgen holte sie die Münze immer wieder hervor. Sie erinnerte sich genau daran, wo sie das Geldstück an sich genommen hatte. Das war in den Minen Salomons gewesen, mitten im Herzen von Jerusalem, direkt unter der Stadt. Rashid hatte an einer Weggabelung in den Minen die Münze geworfen, um ihre Marschrichtung festzulegen.
Rashid. Der Küstenstreifen am Horizont wurde langsam, aber sicher breiter, doch Anne bemerkte es kaum. Sie sah nur Rashids Gesicht vor sich, umrahmt von hellem Haar, mit den blausten Augen, die man sich vorstellen konnte. Er schien sie anzulächeln. Doch dann wurde sein Gesicht bleich, und seine weit geöffneten Augen wurden starr und leblos. Anne konnte die Tränen nur mit Mühe zurückhalten. Für die Welt waren seit diesem Tag vierhundertvierundsiebzig Jahre verstrichen, und wohl kein Historiker hatte sich je mit einem blonden, blauäugigen Janitschar mit Namen Rashid beschäftigt. In den Augen der Geschichtsschreiber war er unbedeutend. Aber nicht für Anne. Für sie war Rashid einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben gewesen. Und ihrem Zeitgefühl nach war er erst vorgestern gestorben – ermordet von einem Wahnsinnigen.
Anne wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Natürlich konnte sie jetzt hier im Flugzeug sitzen, sich angesichts des ungerechten Schicksals sinnlos betrinken und vor lauter Trauer um Rashid die Augen ausheulen. Man hätte es ihr noch nicht einmal übel nehmen können. Doch das war nicht ihre Art. Ganz gleich, wie viel sie trinken und wie viele Taschentücher sie auch verbrauchen würde, die Vergangenheit vermochte sie dadurch nicht zu beeinflussen. Rashid würde weder lebendig werden noch plötzlich in der Gegenwart erscheinen.
Anne lehnte den Kopf an die Kopfstütze des Sitzes. Wenn sie nun in Jerusalem nicht die richtige Schriftrolle gefunden hatte? Sie hatte keine Zeit gehabt, das Pergament zu überprüfen, und außerdem war es verschlüsselt. Sie hatte nur den kleinen Falken in der linken oberen Ecke erkannt, laut Cosimo der Beweis, dass es sich tatsächlich um eine jener Schriften handelte, die dem Zauberer Merlin zugeschrieben wurden. Aber wenn es nun in diesem Pergament gar nicht um das Gegenmittel ging? Wenn es stattdessen ein Rezept für ein zuverlässiges Schlafpulver oder ein Haarfärbemittel war? Sollte sie dann etwa wieder das Elixier trinken und in Madrid in der Vergangenheit erneut auf die Suche gehen? Cosimo selbst würde es auf gar keinen Fall tun. Seine Angst vor den Nebenwirkungen des Elixiers war viel zu groß. Zu Recht. Anne holte tief Luft. Giacomo de Pazzi war wahnsinnig geworden, weil er zu oft von dem Elixier der Ewigkeit getrunken hatte. Würde sie jetzt das gleiche Schicksal treffen? Wollte sie wirklich dieses Risiko eingehen?
Sie rieb sich die Augen und starrte aus dem Fenster. Der Küstenstreifen war mittlerweile so breit, dass man das grüne Land von den dahinterliegenden Bergen unterscheiden konnte. Sie war müde und erschöpft. Zu viel war in den letzten Tagen passiert. Viel zu viel. Innerhalb einer Woche war sie kreuz und quer durch Europa gereist, hatte zweimal einen Zeitraum von fast fünfhundert Jahren übersprungen, einen Sohn zur Welt gebracht und zwei geliebte Männer zu Grabe getragen. Damit musste sie erst einmal fertig werden. Sie schloss die Augen, aber sie konnte nicht schlafen. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um dieselbe Frage. Wenn Cosimo sie erneut bitten würde, das Elixier der Ewigkeit zu trinken, sollte sie es tun oder besser ablehnen?
Eine Hand auf ihrer Schulter ließ Anne hochschrecken.
»Verzeihen Sie, Frau Niemeyer«, sagte die Stewardess, »wir beginnen mit dem Landeanflug. Sie müssen sich bitte anschnallen und Ihren Sitz gerade stellen.«
»Ja, natürlich.« Anne war verblüfft. Sie hatte weder bemerkt, dass sie das Meer hinter sich gelassen hatten, noch, dass die Anzeigen über ihrem Kopf aufgeleuchtet waren.
Die Stewardess lächelte. »Wir landen in etwa fünf Minuten«, teilte sie ihr mit, dann eilte sie zum nächsten Passagier.
Anne sah kopfschüttelnd aus dem Fenster. Unter ihnen schlängelte sich ein Fluss, und sie konnte Straßen und Häuser erkennen. Sie öffnete ihre Hand. Sie hatte offenbar die antike Münze aus Jerusalem die ganze Zeit über fest in ihrer Faust gehalten. Die Umrisse hatten sich in ihre Handfläche eingeprägt wie ein Stempel.
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