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Die Feuer von Eden

Titel: Die Feuer von Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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in derselben emsigen Manier, wie ich es bei Ameisen an einem besonders geschäftigen Ameisenhügel beobachtet habe. Jedesmal, wenn diese Trupps von Sklaven aus dem Dschungel zurückkehrten, gingen sie gebeugt unter der Last eines Steinblocks von knapp anderthalb Metern im Quadrat, ähnlich, wenn nicht identisch mit den Steinblöcken, die wir in dem verlassenen Tempel gesehen haben, der direkt vor dieser Hütte liegt, die uns nun Schutz bietet. Ich wurde Zeuge, wie die Götter... denn als das betrachtete ich die zwei Meter großen Gestalten, so aristokratisch war ihre Haltung und ihr Gebaren... auf eine Stelle am Strand deuteten, wo die ersten Steinquader abgelegt werden sollten. Die Sklaven kamen dem Befehl eilends nach und trollten sich dann wieder in den Dschungel, um weitere Quader zu holen.
    Und so wurde ich Zeuge des Baus eines gänzlich neuen heiau, denn genau das war es. Bald schon erkannte ich die Form... die breiten Stufen für die Opferaltäre, die der Verteidigung dienenden Wälle. Ah... ich kann in Ihren Augen lesen, daß Sie es nicht glauben können. Wie kann ein ganzer Tempel in der kurzen Zeitspanne einer halben Stunde errichtet werden? Doch so können Sie vielleicht mein Erstaunen verstehen, Miss Stewart, Reverend Haymark, denn ich hockte Stunde um Stunde verborgen hinter meinem Felsblock und schaute dem regen Treiben zu. Einmal wunderte ich mich, daß die Dämmerung noch nicht angebrochen war, doch als ich auf meine Uhr sah — gerade so, wie ich es vor wenigen Augenblicken tat —, da waren nur zehn Minuten verstrichen, seit ich das letzte Mal auf die Uhr geschaut hatte, bevor ich die Klippen hinuntergeklettert war. Ich war überzeugt, daß der Chronometer seinen Dienst versagt hatte. Und in der Tat, als ich einen prüfenden Blick auf den zweiten Zeiger warf, mußte ich feststellen, daß er sich nicht von der Stelle rührte.
    Weitere Stunden verstrichen. Die Bäume und Dickichte am Fuß der Klippe wimmelten von Sklaven, die unter ihren Lasten ächzten. Der Strand wimmelte von Göttern und königlichen Insulanern, die die Oberaufsicht über den Bau führten. Die Fackeln flackerten. Die Trommeln schlugen. Der Gesang erhob sich über das Tosen der Brandung. Stunden verstrichen. Der heiau näherte sich seiner Fertigstellung. Es schien, als herrschte Sonnenfinsternis, so daß der ganze Tag im Schutz der Dunkelheit dahinging. Fünfundzwanzig Minuten waren verstrichen. Ich mußte viele Minuten auf meine Uhr starren, bis der zweite Zeiger zuckte, vibrierte und schließlich eine einzige Sekunde weiterrückte.
    Endlich, endlich war der Tempel vollendet. Die Götter und Häuptlinge und Krieger und ihre Sklaven versammelten sich um ihn. Wie auf ein himmlisches Stichwort hin erhob sich vom Meer her ein Sturmwind, mächtiger als die steife Brise, die bislang über das Land gefegt war. Fackeln flackerten und verloschen. Die Szene am Strand wurde nun vom Schein der gespenstischen Leiber der Anwesenden erhellt. Als ich noch Kind in meiner kleinen Heimatstadt in Missouri war, sammelten wir an Sommerabenden Glühwürmchen und trugen sie in Marmeladengläsern auf unsere Zimmer. Dieses Licht war jenem Schimmern nicht unähnlich: fahl, grünlich, ein Abglanz des Todes.
    Was als nächstes geschah, ist der wundersame Teil. Es war von meinem Versteck aus schwer zu sehen, aber die Musik hörte auf, der Gesang verstummte, und die bleichen Gestalten am Strand formierten sich ihrer Hierarchie nach... so als würden sie warten. Sie warteten nicht lange. Mehrere Gestalten tauchten aus dem Meer auf. Die schimmernden Häuptlinge und Götter am Strand bildeten ihnen eine Gasse, als die Gestalten von der Brandung zum Strand schritten, vom Strand zum heiau, vom Fuß des heiau zu den oberen Terrassen. Ich sage Gestalten, weil die Wesen, die aus dem Meer kamen, schlichtweg... unwirklich... waren, um es noch milde auszudrücken. Der Anführer hatte das Aussehen eines Mannes, aber selbst von meinem entfernten Aussichtspunkt konnte ich erkennen, daß er viel zu groß für einen Mann war und viel zu durchscheinend. Er... es... schien aus... nun, aus Nebel geformt zu sein. Aus der Gischt des Meeres. Den Wolken. Irgendwelchen substanzlosen Schwaden.«
    An dieser Stelle rief der Knabe, Halemanu, aus: »Pana-ewa!«
    »Unsinn«, sagte Reverend Haymark. »Pana-ewa ist eine Legende.« Der Knabe sah den Geistlichen noch nicht einmal an, sondern sprach mit leiser Stimme zu Mr. Clemens. »Pana-ewa hat viele Körper. Kino-ohu ist sein Nebelkörper.

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