Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Feuer von Eden

Titel: Die Feuer von Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
griff nach Reverend Haymarks Stiefeln, dann hielt ich jedoch verwirrt inne. Ich hatte nie zuvor einen Mann entkleidet, hatte nicht einmal meinem Vater die Stiefel ausgezogen, wenn er dem Weine zu sehr zugesprochen hatte, und es schien unschicklich, es jetzt zu tun. Glücklicherweise bemerkte Mr. Clemens meine Verwirrung und beugte sich vor, um dem Geistlichen Stiefel und Strümpfe auszuziehen. Einen Augenblick später ragten die zehn Zehen unseres Freundes himmelwärts wie bleiche Grabsteine. Die Vorstellung, jene kalten, toten Füße zu berühren, ließ mich erschauern.
    Die alte Frau legte ihre starken Hände auf meinen Kopf und meine Schulter. »Von diesem Augenblick an bist du eine Priesterin Peles«, verkündete sie in einer Art Singsang. »Du gehörst nun zur Schwesternschaft von Peles Wundertätigen. Du sprichst für Pele. Ich werde dir die Worte eingeben. Deine Stimme wird meine Stimme sein. Deine Hände werden meine Hände sein. Dein Herz wird mein Herz sein. Pele hat gesprochen.«
    In diesem Moment verspürte ich einen mächtigen Ruck, so als wäre ein Blitz in mich gefahren. Meine Erschöpfung schwand mit einem Schlage. Kraft schien aus meinen Fingerspitzen zu strömen. Ich blickte zu Mr. Clemens und sah in seinen aufgerissenen Augen, daß mein Antlitz sich verändert hatte, vielleicht zum Abbild jener strahlenden Energie und jenes Wissens geworden war, die mich in jenem Augenblick erfüllten.
    Ich entkorkte die Kokosnuß. Reverend Haymarks Geist entströmte wie zähe graue Melasse, sammelte sich zuerst in einer Lache auf dem Boden und erhob sich dann zu der Gestalt eines Mannes. Das Gemurmel der alten Frau wurde zu einer beständigen Untermalung im Hintergrund — doch vielleicht hörte ich es auch nur in meinen Gedanken. Ich vermag es nicht zu sagen.
    Als der Geist menschliche Gestalt angenommen hatte, waberte er wie Rauch, der von einem leichten Windhauch berührt wird, und begann, zur Tür zu schweben. Ich bedurfte keiner Aufforderung, um zu wissen, was zu tun war.
    Ich baute mich zwischen Reverend Haymarks Geist und der offenen Tür auf und versetzte dem ektoplasmischen Wesen eine Ohrfeige, wobei meine Finger auf etwas Substanzgleiches stießen, doch glatt durch die Rauchgestalt glitten.
    Der Geist drehte sich um, aber die untere Hälfte verlor ihre menschliche Gestalt und waberte um den Kopf von Reverend Haymarks Leichnam, auf der Suche nach den Augen der Leiche.
    Ich vertrieb den Rauch mit einem beherzten Schlag. Dabei erkannte ich, daß ich das Gespenst fassen konnte, und so packte ich es bei den Schultern und zerrte es zu den nackten Füßen. Diesmal hatte der Geist gänzlich seine menschliche Gestalt verloren, und ich hielt einen greifbaren Nebel in meinen brennenden Händen. Ich drückte den Nebel gegen die Füße. Zuerst spürte ich Widerstand, doch dann spürte ich, wie jener Widerstand erlahmte, sich beugte, und schließlich das osmotische Eindringen in die nackten und verletzlichen Fußsohlen. Es fühlte sich ein wenig so an, als würde man eine dicke Creme durch ein feinmaschiges Sieb passieren.
    Der Geist wehrte sich einen Augenblick lang, und plötzlich kamen mir die folgenden Worte ungebeten in den Sinn. Ich begann zu singen:
     
    »O du Gipfel des Kilauea!
    O ihr fünf Ränge des Feuerpfuhls!
    Das kapu-Feuer der Frau.
    Wenn der Himmel erbebt,
    Wenn die Erde aufbricht,
    Wird der Mann zu Boden geworfen,
    Liegt niedergestreckt auf der Erde.
    Kanes Blitze erwachen.
    Kane der Nacht, geschwind wie der Wind.
    Mein Schlaf ist zu Ende.
    E ala e! Erwache!
    Der Himmel erwacht.
    Die Erde im Inland erwacht.
    Das Meer ist wach.
    Erwache!
    Hier bin ich.«
     
    In jenem Moment erbebte die Erde, und die Hütte schwankte hin und her wie der Bastrock einer eingeborenen Maid in einem ihrer sinnlichen Tänze. Ich hörte ein lautes Knacken und Poltern, obgleich ich nicht zu sagen vermag, ob es nun von einem Erdbeben oder einem Blitzschlag oder beidem herrührte. Mr. Clemens wurde auf die Knie geworfen, doch sein Blick hing weiter wie gebannt an dem Ringkampf zwischen Reverend Haymarks Geist und mir. Ich hätte nicht zu erklären vermocht, warum, aber in jenem Augenblick wußte ich, daß Pana-ewa, Kamapua’a und die anderen Widersacher weit von diesem Ort vertrieben worden waren und die Unterwelt von fließender Lava verschlossen worden war. Ich konzentrierte mich auf meine Aufgabe. Schweiß tropfte von meiner Nase und meinem Kinn, während ich den Geist die Beine des Geistlichen hinauf zu den Hüften zwang.

Weitere Kostenlose Bücher