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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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aufweichte, das vor ihm lag, und mitten in einem Wort die Tinte verschwimmen ließ. Jetzt hob Pietro Pizzamano die Augen. Direkt über seinem Kopf lösten sich aus dem Antlitz der von Gian Battista Ponchino gemalten Justitia einer nach dem anderen die Tropfen.
    »Du lieber Himmel, die Justitia weint!«, rief Pizzamano aus und bot den Tropfen seinen Handrücken dar.
    Zuàne Formento lief zum linken Fenster und öffnete es. Es war, als hätte er es den Winden und Regengüssen der ganzen Welt geöffnet. So übermächtig war die Naturgewalt, die von außen hereindrängte, dass der Fensterflügel aufschlug und ein Windstoß Formento erfasste, ihm die Mütze vom Kopf hob und in den Saal einbrach, wo er Papiere, Wandteppiche und Kleider aufwirbelte. Mit der Luft drang auch das Wasser ein, das Formento von Kopf bis Fuß übergoss wie hohe Wellen die Galionsfigur eines Schiffes. Als der Sekretär, unterstützt von einem Schreiber, den Druck des Sturmes gegen das Fenster gebändigt und es wieder geschlossen hatte, drehte er sich zum Saal um, wo alle ihn erwartungsvoll ansahen.
    »Möge die Jungfrau Maria Venedig beschützen, denn einen solchen Sturm hat es seit Jahren nicht gegeben.«
    Aus den Tropfen, die in immer schnellerer Folge von der Decke fielen, wurde ein Wasserstrahl, der den Fußboden überschwemmte.

52
    Das geheime Mittel, um nicht verrückt zu werden, war die Kontrolle über die Zeit durch regelmäßige Gebete. Auf dem Strohlager der achten Zelle ausgestreckt, lauschte Mehmet Hasan, der alte türkische Teppichhändler, den wechselnden Stimmen des Sturms und wartete auf die vierundzwanzig Glockenschläge zum Sonnenuntergang, dem Zeitpunkt des vierten rituellen Gebets des Tages. Dann würde er sich die Hände, die Lippen und die Nase waschen, darauf den Kopf, die Ohren, die Arme,die Fußgelenke und die Füße. Wenn er rein war, würde er die Decke auf dem Boden ausbreiten und nach Osten, in die Richtung des Schirokko gewandt, die erste Sure des Korans sprechen.
    Er schloss die Augen und begann, die Geräusche und Gerüche einzuordnen. Zuerst den Wind, der sich, nach der Vielzahl unterschiedlich hoher und lauter Pfeiftöne zu urteilen, zu einem heftigen Sturm ausgewachsen haben musste. Es war ganz sicher ein warmer, feuchter Schirokko, denn der istrische Kalkstein roch stark, und die Lärchenholzbretter glänzten und schwitzten, während die Luft in der Zelle vom Wind bewegt wurde, der mit den tiefen Tönen einer Querpfeife durch die Spalten im Ausgang blies. Der Alte war zufrieden mit seiner Arbeit: Nach dem Kontrollgang des Wächters hatte er an diesem Morgen fünfzehn Golddukaten, gut verteilt, in der Sohle seiner rechten Sandale vernäht. Weitere fünfzehn steckten in der linken Sohle. In der Inghistera hatte er etwa fünfzig Dukaten gelassen, die er mit dem Lampenöl eingefettet hatte, um sie vor Oxydierung zu schützen. Aus einem Holzsplitter hatte er eine Art Stopfen gebastelt, und der gläserne Behälter ruhte nun wieder unter dem Stein im Zellenboden.
    In diesem Moment ertönten, gedämpft durch das Wüten des Sturms, die Schläge zur vierundzwanzigsten Stunde. Mehmet richtete sich auf, setzte sich auf den Rand der Pritsche und stellte die Füße auf den Boden. Sofort spürte er das Wasser. Es stieg leise und unmerklich, wie alles Wasser, das heraufquillt. Es drang durch die Spalten um den Stein und hatte den Boden der Zelle schon einen guten Fingerbreit hoch bedeckt. Er dachte an die Flasche mit dem Geld und wollte den Stein schon wieder herausheben, doch dann überlegte er: Er hatte ihn fest verkeilt, denn er wusste, dass das Hochwasser früher oder später kommen würde. Sorgen bereitete ihm hingegen, dass der Stein sich unter dem Druck des Wassers anheben würde und die Wächter den Stollen entdecken könnten. Oder dass sie in die Zelle kämen, bevor das Wasser im ganzen Palazzo anstieg, den Zufluss um denStein herum bemerkten und so den geheimen Gang entdeckten. Sehr besorgt legte er sich wieder auf das Stroh. Mit zunehmendem Alter, dachte er, belegten Ängste jeden unvorhergesehenen Zwischenfall im Alltag, und es fiel ihm immer schwerer, echte von eingebildeten Gefahren zu unterscheiden. Er musste sich beruhigen. Im Grunde war der Stollen seit unzähligen Jahren dort und hatte weder die Wächter noch die Gefangenen je misstrauisch gemacht. Besonders Letztere, die wahrhaftig gute Gründe hatten, aus den Pozzi auszubrechen, waren der eindeutige Beweis für die Güte des Verstecks. Denn wer auf dem

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