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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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Wasser lebt, gewöhnt sich an das Wasser, und ein Kapitän wundert sich nicht, wenn in der Bilge seines Schiffes Wasser steht, eher überrascht ihn, wenn er keines sieht.

53
    Um in diesem Sturm heil vom Krankenhaus zur Locanda della Torre zurückzukommen, hatte Andrea, sich dicht an den Häusern haltend, die inneren Calli gewählt, die über den Campo della Tana bis zur Ziehbrücke führten. Seine Seele war in Aufruhr wegen der Dinge, die er über Anna Tagliapietra erfahren hatte. An der Brücke musste er warten, bis ein Dutzend Schiffe in den Schutz des Alten Hafenbeckens geschleppt worden waren. Als der Übergang wieder geöffnet wurde, streifte das Wasser schon den Sockel der Fondamenta della Madonna, und bis zum Höchststand der Flut fehlten noch ein paar Stunden. Es würde ein gewaltiges Hochwasser geben, dachte Andrea, eines von denen, an die in den Annalen erinnert wurde.
    Auf der Brücke der Madonna del Carmine, wo der Rio dei Greci zum Rio San Lorenzo wird, erfasste ihn ein Windstoß. Er hielt sich an der Brüstung fest, und als er nach Süden blickte, sah er die Wellen der Lagune bis zur Mitte des Rio kommen und sich dort brechen. Hinter der Brücke, an den Fondamenta SanLorenzo, fand Andrea sich plötzlich in einer Art Kanonenrohr wieder, durch das Schirokkoböen schossen, die einen Stier umwerfen konnten. Vom Sturm aufgehetzt, leckten erste Flutwellen schon an den Pflastersteinen und zwangen die Menschen, dicht an den Hauswänden zu bleiben.
    Wer in seinem Haus war, stand bei geöffnetem Ausgang in den unteren Geschossen und behielt einen Stein, eine Stufe, ein Rohr, einen Ring oder irgendeine andere Stelle des Hauses im Auge, um zu erkennen, ob das Wasser noch höher stieg oder müde wurde und zurückging. In dieser Wartezeit war jedermann vollauf damit beschäftigt, seinen Besitz aus dem Erdgeschoss zu retten: Einrichtungsgegenstände, Haushaltswaren, Wäsche, Nahrungsmittel und Erinnerungen. Gute Nachbarn organisierten schon den gemeinsamen Exodus in die oberen Stockwerke, zumindest für diese Nacht, denn wenn das Wasser einmal eingedrungen war, hinterließ es überall reichlich Schlamm. Andrea ging über die Fondamenta, vom Wind geschoben und bis auf die Knochen durchnässt, halbblind unter den Sturzbächen des Regens. Er sah, dass das Hochwasser die beiden seitlichen Bögen des Ponte San Lorenzo schon fast verschluckt hatte und an ihre Wölbung aus istrischem Stein schwappte. Unter dem großen mittleren Bogen wäre eine Gondel mit Aufbauten kaum mehr hindurchgekommen. Andrea dachte an die Piazza San Marco, an den Dogenpalast, an den gesamten tiefer liegenden Teil der Stadt. Dort musste das Wasser schon mindestens einen halben Arm hoch stehen. Und nichts konnte es aufhalten bei seinem Kommen und Gehen.
    Er ließ die Brücke links liegen und stand direkt vor der Locanda della Torre, die mit ihrer roten Mauer die Fondamenta abschloss. Die kleine Eingangstür war von helleren Steinen umrahmt und gekrönt mit dem schmiedeeisernen Zeichen eines Turms. Auf dieser Seite gab es nur ein durch ein Eisengitter geschütztes Fenster im ersten Stock, direkt über der Osteria, wo auch das Schlafzimmer des Wirts Lorenzo und seiner Frau Maria lag. Der übrige Teil der Locanda erstreckte sich nach links entlang der Calle San Lorenzo. Die Eingangstür schien geschlossen, aber sie war nur angelehnt, ein Gewicht an einer Schnur verhinderte, dass sie aufriss, aber der Spalt erlaubte den Gästen, einzutreten. Andrea drückte sie auf, trat ein und klopfte seine Stiefel auf der Hanfmatte ab. Die Tür schloss sich und ließ den Lärm des Sturms draußen. Andrea erkannte den tröstlichen Duft der agliata , einer der Soßen, die jeden Nachmittag zubereitet wurden und die abendlichen Fleischgerichte würzten. Er hörte das Stimmengewirr der Gäste, schüttelte die Tropfen von seinem Mantel und nahm sich die Mütze ab.
    Graziosa kam aus der Küche, im Arm ihren Bruder Rocco, den anderen Bruder, Bernardino, fest an der Hand. Als sie Andrea sah, blieb sie im Flur stehen. Kurz darauf tauchte Lorenzo auf der Schwelle zur Küche auf, einen dampfenden Topf in der Hand, und als er den Weg von seiner Tochter versperrt sah, murrte er: »Wirst du dich wohl bewegen, wo wir bald das Wasser im Haus haben werden?« Das Mädchen zögerte noch immer, dann lief sie eilig die Treppe hinauf, Bernardino hinter sich herziehend. Auch die Familie des Wirts zog in den ersten Stock um. Lorenzo wollte ihr folgen, da erblickte er Andrea und hielt

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