Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
Vom Netzwerk:
der Hütte, wo ein Sandolo lag. »Auf dieses alte Boot von Onkel Michele. Ich erinnere mich, dass sie im Dezember 1514, als die Lagune zufror, ganze Tage dort saßen und lasen. Ich beneidete sie sehr. Unser Vater Alvise war gestorben, ich arbeitete hier in der Brennerei mit dem Onkel. Mein ganzes Leben langhabe ich gearbeitet und keine Zeit für die Philosophie gehabt. Kommt, ich will Euch etwas zeigen.«
    Die Frau nahm eine gläserne Glocke und klingelte. Der Lehrling kam sofort angelaufen.
    »Pierin, hilf mir, ich will diesen Herrn in das kalte Zimmer bringen.« Sie wandte sich zu Andrea. »Kommt mit.« Zusammen mit dem Lehrling half Andrea der Frau, sich aufzurichten, und stützte sie beim Gehen. Es war kein langer Weg bis zur Wand aus roten, von der Zeit glattgeschliffenen und staubbedeckten Backsteinen, wo Pierin, eine brennende Kerze in der Hand, ein zweiflügeliges Tor öffnete, das aussah, als sei es erst vor kurzem angefertigt worden.
    Kälte schlug Andrea entgegen, dann ein Geruch, der nichts mehr mit dem Duft des heißen Glases zu tun hatte, sondern an die sehr feuchten, dunklen Böden erinnerte, in welche man in Treviso im Herbst die Radicchio-Pflanzen steckt, um die weißen Rippen hervorzutreiben.
    »Zünde sie an, Pierin, zünde alles an!«, sagte die erschöpfte Glasmeisterin und ließ sich auf einen weiteren gepolsterten Sessel fallen.
    Die Flamme der einen Kerze vervielfachte sich im Handumdrehen, während aus dem Nichts die kupfernen Arme eines Kronleuchters auftauchten, außerdem Kelche und Kerzenhalter aus Glas. Einen Augenblick später stieg der Kronleuchter, begleitet vom Rasseln der Winde, zur Decke auf und erhellte diesen Teil des Lagers, so dass immer mehr gläserne Formen Gestalt annahmen. Gleich danach, vier Schritte weiter, wiederholte sich dieses Wunder aus Licht in seinen Formen und Bewegungen und noch weitere unzählige Male, bis noch die kleinste Lichtquelle in Leuchtern und Hängelampen, Laternen und Kandelabern lebendig wurde. Nicht einmal im Dogenpalast hatte Andrea je eine solche Pracht gesehen.
    »Das ist unsere Geschichte, Andrea«, sagte die alte Glasmacherin und zeigte ihm die beiden Seiten der Glasbläserkunst: eineobere, drohend wie ein umgestürzter Wald, dessen Wurzeln in den Himmel ragen, aus Kronleuchtern, Hängelampen und Glastropfen jeder Form, Größe und Farbe; die andere, am Boden stehend und beruhigend, aus Kelchen, Flaschen, Inghistere und Pokalen, Trinkgläsern und Krügen, Schalen, Vasen und Ampullen. Je länger Andrea seinen Blick umherschweifen ließ, desto mehr neue Formen und Metamorphosen des Glases entdeckte er.
    »Als meine Beine mir noch gehorchten«, sagte sie ohne großes Bedauern, »ging ich jeden Tag bei Sonnenaufgang in das kalte Zimmer, um die Meisterwerke meiner Vorfahren zu betrachten und die Zeit zu ermessen. Auch meine Gläser werden nach meinem Tod hier aufgestellt werden, wenn jemand die Güte hat, daran zu denken. Vielleicht wird Pierin sich darum kümmern, nicht wahr, mein Söhnchen?«
    Der Lehrling schwieg, seine Augen füllten sich mit Tränen. Ermonia wies Andrea auf eine Stelle an der Decke, wo ungewöhnlich schöne Leuchter von einzigartiger Leichtigkeit und Transparenz hingen, Polyeder in den unterschiedlichsten Formen und Größen. »Diese Leuchter sind Lucias Werk.« Wieder wandte sie sich an den Lehrjungen: »Pierin, zünde den großen an!«
    Der Junge, der die Flamme mit einer Hand abgeschirmt hatte, ging mit der Kerze durch den Raum, blieb unter dem Leuchter stehen, löste die Schnur und ließ ihn herab. Einen Augenblick später glomm das Öllämpchen im Inneren des Polyeders auf. Als Pierin sie hochzog, begann die Laterne sich um sich selbst zu drehen und ließ ringsumher Myriaden von Regenbögen aufscheinen.
    »Wunderschön.« Andrea konnte es nur leise murmeln, während er unter den Leuchter trat.
    »Alles aus Cristalìn, elf Seiten heiß verschmolzen, die zwölfte wurde offen gelassen, um das Licht entzünden zu können.«
    Stille senkte sich über die Halle, ab und an ließ eine Tramontanabö ihren Schrei hören, während die feuchten Dochte knisterten.
    Schließlich hörte Andrea Ermonias Stimme in seinem Rücken: »In diesen Lichtern steckt alles, was Lucia war, und sehr vieles von Lucrezia: die Kunst der Glasbläserei und die Philosophie.«
    Ihre Worte ließen Andrea schwanken und stießen ihn den Hang böser Erinnerungen hinunter. Im Geist sah er zuerst ein brennendes Blatt Papier mit der Zeichnung eines geometrischen

Weitere Kostenlose Bücher