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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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seine Schüler wie Weintrauben ausquetschen und persönlich die Entschlüsselung überwachen wird.« Formento legte Riccio eine Hand auf die Schulter. »Jetzt gehe ich die Ruderer antreiben, denn wir scheinen nur wenig Fahrt zu machen.«
    Nach diesen Worten verließ der Sekretär die Kabine und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Das zufriedene Lächeln auf Riccios Gesicht konnte er nicht mehr sehen.
    »Na los, etwas mehr Schwung!«, sagte er zum Ruderer am Heck. Dieser pfiff einmal und zwang die Gondel zu einem schnelleren Rhythmus. Formento wandte sich der Giudecca zu. Die Insel schien mit ihren Gärten, Palisaden, Pergolen, Häusern, Kirchen und Glockentürmen zwischen Meer und Himmel zu schweben. Sein Blick richtete sich auf das Kloster und die Kirche San Giacomo. Dort erwartete sie der Prior, Dardano Veneziano, um Fra Angelo aufzunehmen, der sich für eine Zeit der Buße und des Gebets in die Klostergemeinschaft begeben würde.

69
    Die Sala Orba, der »verwaiste Saal«, war der letzte Raum im Stockwerk der Loggien des Palazzo Ducale, eingezwängt zwischen der Apsis der Kirche San Marco, den unteren, weniger repräsentativen Räumen der Dogenwohnung und einem langen Korridor, der in den Saal der Unteren Dogenkanzlei führte. Da der Raum keine Fenster hatte, herrschte dort tiefe Finsternis, und man brauchte ein Licht, wenn man ihn betreten wollte. Diese Besonderheit hatte aus ihm eine bessere Abstellkammer des Ostflügels gemacht, eine Art Abfalllager, vollgestellt mit unbenutzten Möbeln, Vorhängen, Teppichen und abgelegten Akten aus der Kanzlei. Inzwischen war es so weit gekommen, dass jeder nur noch die Tür öffnete und irgendetwas hineinwarf.
    Am Tage zuvor jedoch war der Saal zu neuem Leben erwacht, dank des Zornesausbruchs von Zuàn Francesco Marin, dem amtlichen Chiffreur, und weil sein wohlmeinender Gegner, der Großkanzler Zuàn Francesco Ottobon, sich großzügig gezeigt hatte. Eine Mannschaft aus zehn, mit klingender Münze bezahlten Arsenalotti hatte die ganze Nacht gearbeitet, um so viel Platz wie möglich für den »Besessenen« frei zu machen, wie Ottobon den Kryptologen Marin mittlerweile zu nennen pflegte.
    Einige Stunden später, als beim festlichen Mittagsgeläut ein intensiver Duft nach Knoblauchsoße aus den Dogenküchen im Untergeschoss aufstieg, beherrschten sieben Leinwände, jede eine Elle hoch und anderthalb Ellen breit, die gesamte Rückwand des Saals, und Ferigo und Pietro arbeiteten darauf mit Kohlestiften. Marin suchte derweil nach einem weiteren Platz für eine seiner zahllosen Lampen.
    Auf den Leinwänden erschienen nun sieben erweiterte Alphabete von A bis Z, jedes mit sechsundzwanzig untereinander geschriebenen Buchstaben. Neben vielen dieser Buchstaben erstreckten sich in der Horizontalen mehr oder weniger lange Reihen mit Kreuzen, und auf jeder Leinwand prangte ganzoben ein kursiv geschriebener Titel: Littera I, Littera II, und so weiter bis Littera VII . Jede Leinwand zeigte die Häufigkeit des Auftretens eines der sieben Buchstaben, aus denen das Schlüsselwort der Geheimschrift gebildet war.
    »Gut gemacht!«, rief Zuàn Francesco Marin aus, während er den Oberkörper nach hinten bog und das Ungleichgewicht mit den in die Seiten gestützten Armen ausglich. »Da haben wir nun unsere sieben verschleierten Schönen, alles reizende Damen, die ihr eine nach der anderen entkleiden werdet, damit sie uns ihr Aussehen preisgeben!«
    Ferigo und Pietro waren zu beschäftigt, um ihm zuzuhören, während sie Kreuze auf die letzten beiden Leinwände malten und ihre Blicke zwischen diesen und den Papieren in ihrer Hand hin- und hergingen. »Fertig!«, riefen beide gleichzeitig aus.
    »Lasst mal sehen.« Beim Näherkommen strich Marin sich die weißen Haare glatt, die zu beiden Seiten seines Schädels aufragten wie die schneebedeckten Dolomiten. »Viva San Marco!«, brach es aus ihm heraus, als er das Alphabet der siebten Leinwand und die Kreuze neben den Buchstaben langsam von oben nach unten abgelesen hatte. »Endlich sind wir am Ziel!« Er ging zu einem großen Tisch an der Wand mit der Eingangstür, auf dem Bücher und allerlei Werkzeuge der Dechiffrierkunst herumlagen. »Da sind sie ja!« Er zog zwei hölzerne Täfelchen hervor und zeigte sie seinen Schülern.
    »Dies sind unsere Landkarten! Hier ein auf sechsundzwanzig Buchstaben erweitertes Alphabet mit den Häufigkeiten, wie sie beim großen Dante vorkommen. Er gab Pietro das erste Täfelchen. »Und dies sind die

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