Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
rührte sich nicht, und ihre Augen waren vor Staunen weit geöffnet. Ihr schlichtes Kleid schien im Vergleich zu diesem Luxus aus Lumpen genäht. Mit unmerklichen Kopfbewegungen folgte sie Maestro Foppa, der zwischen den fünf im Halbkreis vor Sofia aufgereihten Kleiderpuppen herumtänzelte. Andrea beobachtete, zufrieden und gerührt neben einem der beiden Fenster des Vorführsaals an der Wand lehnend, die Szene aus einiger Entfernung.
»Seht nur, dieser herrliche Blauton.« Mit honigsüßer Höflichkeit wandte Foppa sich an Sofia. »Er wird all Eure Grazie erstrahlen lassen.« Dann zog er einer Puppe einen leichten Umhang mit Kapuze von den Schultern und legte ihn über das Kleid. »Und passt er nicht vortrefflich zu diesem Überkleid aus reinster Merinowolle?«
Sofia blickte Andrea ratlos an. Er verstand ihre Verlegenheit, beschloss aber, sich nicht einzumischen.
»Es ist Eure Wahl«, sagte er lächelnd.
»Natürlich, Signora«, griff der Schneider ein, der sich in seinem Metier auskannte, »seid Ihr imstande, die Qualität von Stoffen genau zu erkennen, darum kommt her, fühlt, urteilt selbst und wählt aus.« Und mit einer übertriebenen Verbeugung, als stünde er vor einer Königin, wich er zurück, um ihr den Weg frei zu machen.
Nach kurzem Zögern stand Sofia auf, ging zu der Puppe, die sie um eine gute Spanne überragte, und begann sie zu umkreisen und in stummer Begeisterung die Stoffe zu streicheln. Dann untersuchte sie die danebenstehende Puppe, um deren Kleid ebenfalls mit den Augen und den Fingern zu liebkosen. So tat sie es mit allen fünfen.
»Darf ich?«, fragte sie schüchtern.
Maestro Foppa breitete theatralisch die Arme aus und rief lächelnd: »Dürfen? Ihr müsst, verehrte Signora!« Sein Ton war so beflissen unterwürfig, dass Andrea sich abwenden musste, um seine Heiterkeit zu verbergen.
Sofia hatte derweil begonnen, die Kleider unter den fünf Puppen auszutauschen, um Farben und Stoffe zu kombinieren. Einer nahm sie den samtenen Hut ab und setzte ihn einer anderen auf, ein einfarbiges Mieder ersetzte sie durch eines mit aufgestickten Blumen. Schließlich blieb sie bewundernd vor der Puppe stehen, die sie neu eingekleidet hatte. Ein strahlender Blick zu ihrem Kavalier, mehr musste sie nicht erklären.
»Das nehme ich, Maestro Foppa«, sagte Andrea zufrieden.
»Ihr hättet nicht besser wählen können.« Der Schneider verbeugte sich erneut vor Sofia, dann wandte er sich an Andrea. »Wir sind schnell wie der Blitz, verlasst Euch darauf!« Er klatschte zweimal in die Hände, und augenblicklich entstand in dem Saal eine rege Geschäftigkeit, die an die genau abgestimmten Bewegungen bei manchen athletischen Übungen erinnerte. Während der Lehrling aus dem Berberland die ausgeschiedenen vier Puppen wegbrachte, strömten Schneiderinnen und Lehrlinge in den Saal und begannen, Sofia zu umkreisen, um Maß zu nehmen und ihre Proportionen mit Nadeln und Kreide auf die Kleiderpuppe zu übertragen. Nachdem sie der Puppe das Kleid abgestreift hatten, stürzten sich die Schneiderinnen gleich emsigen Bienen auf den Stoff, griffen zu Scheren und Nadeln und schnitten und nähten so sorgfältig und aufmerksam wie Chirurgen am lebenden Körper.
79
Wenn man die beiden so sah, wie sie im diffusen, dunstigen Licht der Dämmerung nebeneinander durch den botanischen Garten zwischen seltenen, kostbaren Heilpflanzen wandelten, hätten Alvise Mocenigo und Giovanni Antonio Facchinetti, Ersterer ein Mann aus dem Umfeld des Dogen, Letzterer engster Vertrauter des Papstes, tatsächlich Geschwister sein können: Der gleiche dunkle Bart, die gleichen skeptisch hochgezogenen Augenbrauen, dazwischen eine so imposante Nase, dass sie den Mund fast zum Verschwinden brachte. Beider Augen waren braun, schmal und länglich geschnitten wie bei den Mongolen und flitzten wissbegierig hin und her wie Kaulquappen im Tümpel, als läsen sie in der Luft einen Text mit Anweisungen zum guten Leben.
Beide waren Machtmenschen, keiner der beiden traute dem anderen, dennoch vereinte sie die Überzeugung, dass sie gemeinsam – wenn auch nicht auf dieselbe Weise – den Lauf der Geschichte ändern konnten. Um dieses Ziel zu erreichen, hatten sie sich durch ihren Umgang mit der höfischen und der staatlichen Diplomatie jahrelang in der Kunst des Ausgleichs und der Geduld geübt. Wenn sie jedoch zuschlugen, trafen beide schnell und präzise wie Giftschlangen: eine Technik der liebenswürdigen Reglosigkeit, auf die ein Zucken folgte, dann
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