Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Schlamm versunkenen Hölzer wuchsen andere, lebendige Hölzer aus dem Boden: Schilfrohre, Büsche oder kleine Bäume, die ihre Toten aufzunehmen schienen, sie umarmten und beschützten. Auf einem seiner täglichen Spaziergänge hatte Angelo Riccio das Kloster San Giacomo hinter sich gelassen, war über die Fondamenta in Richtung Sant’Eufemia gegangen und hinter San Biagio an den Rand des Bootsfriedhofs gelangt. Dort setzte er sich und schaute in Richtung Padua. Er hatte sich noch nie auf diesen Friedhof gewagt und hätte es auch heute gerne vermieden. Die Pistole, die er in der Hand hielt, nahm ihm ein wenig von seiner Angst. Die Vorstellung, dass dies die entscheidende Begegnung mit Tomei werden würde, erleichterte ihn, aber sie garantierte ihm nicht, dass er am Leben blieb. Andererseits gab es bei dem Gewerbe des Spions, das er sich ausgesucht hatte, keine Sicherheiten: Wie bei Künstlern hing alles von Talent und Übung ab. Es war reine Kunst, mit hohem Risiko und ebenso hohem Lohn. Eine ständige, tägliche Herausforderung, wo der richtige Moment, aus dem Spiel auszusteigen und zu verschwinden, den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte.
Er sah sich um. Die Vorstellung, Tomei umarmen, küssen und noch immer den Verliebten spielen zu müssen, war ihm unerträglich. Aber die Aussicht, alles bei dieser letzten Begegnung zu verlieren, war noch weit unangenehmer.
»Angelo!«
Riccio drehte sich zur Mitte des Bootsfriedhofs um und sahTomei. Er stand auf dem Heck eines Kahns und schwenkte beide Arme.
In das Boot stieg man von der Mitte aus. Der Raum unter Deck war vom dunstigen Licht einer Laterne erfüllt, die Kälte war hier weniger grimmig. Die gefürchtete Umarmung fand in dem Moment statt, in dem Angelo seinen Fuß auf die Bohlen der Wegerung setzte.
»Mein über alles Geliebter!«, hauchte Tomei, und während er ihn an sich drückte, wunderte er sich, wie natürlich ihm die Zärtlichkeit noch immer geriet.
Riccio wiederum versuchte, obwohl sie eng umarmt stehenblieben, den Arm fest an den Körper gedrückt zu halten, denn unter seiner Achsel war die Pistole versteckt. Der Kuss war leicht, auch die Liebkosungen. Riccio sah, dass Tomei sich dort unten eingerichtet hatte. Ein alter gusseiserner Ofen, der zum Kochen und Heizen benutzt wurde, glühte am Fuß des Mastes. Auf einer der Holzbänke, auf denen die Fischer schliefen, lagen ein paar Decken.
»Es lebt sich nicht schlecht hier, wenn die Ratten nicht wären. Aber morgen sind wir weit weg«, sagte Tomei. »Wenn du mit mir kommen willst, natürlich«, fügte er hinzu.
Riccio tat, als wundere er sich. »Aber sicher komme ich mit!«
Der Florentiner lächelte ihm zu und zeigte auf den Tisch, wo die Laterne brannte. »Was ich suchte, ist dort auf dem Tisch.«
Die Lampe weckte Angelos Aufmerksamkeit. Sie war ein perfektes Dodekaeder von anderthalb Spannen Durchmesser und bestand aus zwölf, von einem dünnen Bleirahmen zusammengehaltenen Glasscheiben. Im Inneren brannte eine Kerze. Er trat näher, hörte, dass Tomei ihm folgte. Beim letzten Gespräch mit dem Erzbischof Altoviti in Florenz hatte der Prälat ihm erklärt, dass die Chiffre, mit der man an das Versteck der Bücher gelangte, aus einem gläsernen Gegenstand, einem kleinen Buch auf Griechisch und einer Zahlenfolge bestand. Neben der Lampelag ein handliches Bändchen. Riccio ließ sich nicht anmerken, dass er verstanden hatte, was er sah, das wäre ein Fehler gewesen. Er nahm das Buch. Es hatte einen festen Einband aus Pergament. Er schlug es auf. Auf der ersten Seite stand, in griechischen Buchstaben gedruckt:
PLATON
TIMAIOS
Angelo Riccio blickte zu Tomei auf.
»Was bedeutet das?«, fragte er unsicher.
»Setzen wir uns«, sagte der Florentiner.
Sie setzten sich an den Tisch. Tomei nahm ihm das Buch aus der Hand.
»Du wirst mich nicht verraten, nicht wahr, Angelo?«
Riccio wartete nur einen Moment, um die nötige Überraschung zu heucheln, die eine ehrliche Antwort begleitet. »Wie kannst du das nur denken?«, entgegnete er seufzend.
Tomei schien zu lächeln. Er zeigte ihm ein Blatt, auf dem geschrieben stand:
α β γ δ θ η κ ζ
»Dies ist eine Folge ionischer Zahlen: eins, zwei, drei, vier, neun, acht, siebenundzwanzig«, erklärte er. »Sie entsprechen den Seiten in diesem Timaios . Und jetzt schau her.« Tomei zeigte Riccio winzige römische Ziffern, die am Rand von sieben der zwölf Seiten der Lampe eingeritzt waren. »Dieselben Zahlen«, sagte er. Dann nahm er die Kerze
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