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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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aus der Lampe und gab sie Riccio: »Halte sie in dieser Höhe.«
    Der Frate hielt sie eine Handbreit über dem Tisch. Tomei öffnete den Timaios auf der ersten Seite und legte sie an die erste Seite der Lampe, so dass der untere Seitenrand mit dem unteren Rand der Glasscheibe genau zur Deckung kam.
    »Siehst du, das ist das erste Gitter«, sagte Tomei aufgeregt. »Komm näher mit der Kerze und schreib die Buchstaben auf, die von den in das Glas geritzten Kreisen markiert werden.«
    Angelo Riccio tat, was ihm gesagt wurde. Er brauchte nicht lange, um die angezeigten griechischen Buchstaben zu finden, und begann, sie aufzuschreiben.

93
    Seit langer Zeit schon stand Pietro Loredan nicht mehr aus dem Bett auf, außer für die dringlichsten Bedürfnisse. Die Ereignisse dieses Tages hatten ihn sehr ermüdet. So hatte er beschlossen, liegenzubleiben und über den Tod nachzudenken. Er wollte bereit sein, wenn der Tod kam, und hatte lange mit Lucrezia darüber gesprochen. Um sie besser zu sehen, hatte er Tonietto gebeten, das von Lorenzo Lotto gemalte Porträt seiner Gattin an sein Bett zu bringen und auf einen Stuhl ohne Armlehnen zu stellen. Und je länger er sich dem imaginären Zwiegespräch hingab, desto überzeugter war, dass Lucrezia wirklich dort neben ihm saß.
    Mehr als der Tod selbst, erklärte er ihr, ängstige ihn der Schmerz, den er ihm bereiten würde, ein Schmerz, den er schon jetzt fühlte, wenn die schwarzen Steine in seinem Körper ihm den Atem nahmen und seine Eingeweide zerrissen, so dass er Blut spucken musste. Eine seiner größten Sorgen war, würdelos zu sterben, dem Urteil der Lebenden und seiner geliebten Toten ausgesetzt. Vor allem ihrem, Lucrezias Urteil. Deutlich spürte er die Liebkosung seiner Frau auf der linken Wange. Und er fühlte, wie seine Hand genommen wurde. Gerührt dankte er ihr.
    Andrea hatte lange nicht mehr mit seinem Vater gesprochen, doch an diesem Nachmittag ging er zu ihm, um ihm zu danken. Er fand ihn neben dem Porträt von Lucrezia, als hätte sich die alte Ehe erneuert. Auch er war gerührt.
    Draußen, vor der mit Frühlingsblumen bemalten Tür, freute sich Tonietto, dass er den Sohn endlich neben dem Vater sah.
    »Ein großer Künstler, der größte von allen«, sagte Pietro, auf das Gemälde zeigend. »Lorenzo beschrieb mittels der Körper die Seele, und darum wurde er nicht verstanden.« Er erzählte Andrea von seiner Freundschaft mit Lorenzo Lotto, davon, wie er versucht habe, ihm zu helfen und ihn dazu zu bewegen, dass er von Loreto, wo er sich als Oblat in ein Kloster zurückgezogen hatte, nach Venedig zurückkehrte. Sie hatten einander Briefe geschrieben. Er hatte ihm Geld geschickt. Lorenzo hatte versprochen zu kommen, aber dann war er dort geblieben.
    »Beim Erwachsenwerden lernt man zu leben. Doch wenn man altert, sollte man das Sterben lernen. Wie er es tat«, murmelte Pietro bitter.
    Andrea verstand, dass er im Grunde von sich selbst sprach, und hörte ihm schweigend zu.
    »Lorenzo ist arm gestorben, er hat die Kutte getragen und die Eitelkeit der Welt verachtet«, fuhr sein Vater fort. »Das ist das ganze Geheimnis: rechtzeitig alles aufzugeben, was man besitzt.« Er verscheuchte die Bitterkeit mit einer Handbewegung und setzte die schelmische Miene eines kleinen Jungen auf. »Man berichtet mir, dass es Leute gibt, die singen: Ein Hoch dem Hungerdogen auf dem Thron, er sorgt für unsere Brotration.« Er deutete das Tänzchen an. »Auch das Volk will, dass ich abtrete, wenn der Tod mich nicht dazu zwingt!« Pietro Loredan, ein Mann des offenen Worts, schien das jedoch zu belustigen. »Denk nur, mein Sohn, sie haben mir sogar angeboten, mich an den Lido nach Forte San Nicolò zu verlegen! Um deiner Gesundheit willen, haben sie gesagt, denn da ist gute Luft. Wo die Bombardieri den ganzen Tag lang mit ihren Kanonen schießen! Die Wahrheit ist, dass sie mich loswerden wollen, weil ich gegen den Krieg bin!« Sein Ton wurde kämpferisch. »Ich werde diesen Palazzo nur auf der Bahre der Totengräber verlassen, und das nur, um Alvise Motzenigo keinen Gefallen zu tun!« Andrea lachteüber dieses Wortspiel. »Ich habe gehört, dass du in den Palazzo zurückkehren wirst, mein lieber Sohn«, und bei diesen Worten reichte er ihm die Hand. Andrea ergriff sie. Pietro klammerte sich daran und zog sich hoch, um sich schwach an Andreas Arm zu drücken.
    Bevor Andrea die Umarmung erwidern konnte, löste sein Vater sich und drehte ihm den Rücken zu, um sich auf den gepolsterten

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