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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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unbeschwert auf das Fest gegangen. Sie hatte die Jungen lachen und das Törchen zuschlagen gehört. Dann war es still geworden, und gleichzeitig hatte sich der Duft des Glases verbreitet. Ermonia liebte diese Stille und diesen Duft, sie waren immer gleich, an jedem Festtag. Der Ofen schlief, und sie stellte ihn sich gerne wie ein reglos schlafendes Lebewesen vor, das bereit war, wieder zu erwachen und weiterzuarbeiten.
    Ihr Blick fiel auf die Blasrohre und Stangen, an denen das Glas bearbeitet wurde. Sauber und der Länge nach geordnet, ruhten sie wie Ritterlanzen vor dem Turnier auf ihren Ständern. Sie nahm eine lange Stange und öffnete damit die Ofenklappe. Ein weiches, helles Flämmchen zuckte in der Luft wie ein vom Wind bewegter Wimpel, und aus dem Ofen drang die tiefe Stimme des Feuers. Denn das Feuer sprach zu Ermonia, und sie hatte gelernt, es zu verstehen. Sie wusste zum Beispiel, dass jede Temperatur ihren eigenen Ton hat und dass das zarte Murmeln zu einem mächtigen Brüllen werden musste, damit das Glas schmolz. Dieses Feuer konnte auch töten wie die Kralle eines wilden Tiers aus Afrika. Denn dort drinnen, im Herzen des Ofens, gab es eine glühende Sonne, und das flüssige Glas lebte darin wie ein Höllenwasser. In der kalten Jahreszeit, wenn der eisige Nordostwind wehte, waren die Gefahren am größten. Niemals bei Bora die Türen des Ofenraums öffnen, das war die erste Lektion, die erfahrene Glasbläser ihren Lehrlingen beibrachten, denn die Kälte würde die Öfen zerspringen lassen. Niemals die Türen des Brennraums und die Ofenklappen gleichzeitig öffnen, dann würden die Öfen brüllen und Feuer spucken. Der Atem des Drachen, so nannte man das.
    An diesem Tag war es bitterkalt, doch die Bora wehte nicht, und die Türen waren fest verschlossen. Ermonia nahm eine andere Stange mit einem zugespitzten Ende und steckte dieScheiben Aal darauf. Dann näherte sie diesen Spieß dem Ofen auf zwei Handbreit, und schon nach wenigen Augenblicken begannen die Scheiben zu zischen. Sie schloss die Klappe ein wenig, um die Hitze zu regulieren. In einer halben Stunde würde der geröstete Aal fertig sein.
    In diesem Moment schoss eine bläuliche Lohe aus der Ofenklappe, die den Aal versengte und sich, zu Rauch geworden, in der Luft kräuselte. Ermonia begriff, dass jemand in die Glashütte gekommen war. »Pierin, bist du das?«, fragte sie mit lauter Stimme. »Pierin?« Nichts. Sie hörte Schritte und drehte den Kopf ein wenig. Dort hinten stand Andrea und beobachtete sie. Er trug die Anwaltstoga, den langen Mantel aus Leder, Stiefel und Barett. Eine halbe schwarze Maske hing ihm um den Hals.
    »Verzeiht mir, Maestra Ermonia.«
    Ihre Miene erstrahlte in einem Lächeln, sie bedeutete ihm, näher zu kommen.
    »Kommt her, lieber Andrea.«
    Andrea schritt durch den großen Raum und blieb direkt vor ihr stehen.
    »Ich weiß, dass Marin mit Euch gesprochen hat«, sagte Ermonia. Andrea nickte.
    »Nun, werdet Ihr uns helfen?« Sie sah ihn liebevoll an.
    »Ich muss noch mehr wissen, darum bitte ich Euch, aufrichtig zu sein und mir zu vertrauen, Maestra.«
    In der Stille hörte man das leise Flüstern des Feuers.
    »Ihr habt die Flucht von Jacomo Dragan vorbereitet, nicht wahr?«
    »Ist das so wichtig?«
    Andrea nickte nur. Ermonia zögerte kurz, dann bejahte sie die Frage.
    Andrea seufzte. »Mit Dragan sind auch zwei Jungen geflohen.«
    »Ich weiß, das hätte nicht passieren dürfen.«
    »Wisst Ihr etwas von ihnen?«
    »Sie sind in Sicherheit. Vorerst jedenfalls.«
    Andrea schloss die Augen. Als er Ermonia wieder ansah, schien er erleichtert.
    »Jetzt stelle ich Euch eine letzte Frage, und als Gegenleistung kann ich Euch nur mein Stillschweigen bieten.«
    »Wir hätten Euch nicht all das gesagt, was Ihr jetzt wisst, wenn wir Euch nicht vertrauen würden. Fragt, und ich werde Euch antworten.«
    Wieder hörte man nur das Murmeln des Brennofens.
    »Wo sind Jacomo und die beiden Jungen?«
    Ermonia lächelte. »Setzt Euch. Ich werde Euch alles erklären.«
    Andrea nahm einen Schemel und setzte sich neben die alte Glasmeisterin.

112
    Nicht einmal die Süßigkeiten aus Marzipan und das Ingwerkonfekt konnten den Groll der Äbtissin gegen Andrea mildern. Denn die Bemerkungen, die der Anwalt bei der letzten Begegnung mit der Zonta über den Gesundheitszustand von Sofia Ruis gemacht hatte, brannten der Ordensfrau noch in der Seele. Im bitterkalten Kapitelsaal, wo das Sonnenlicht durch die bleigefassten Fenster in der Farbe von

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