Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
es wie das Knistern, das im Wald anhebt, wenn er gefriert.
Sofia. Der Gedanke hielt Andrea wach. Als er mit dem Kopf unter dem Kissen hervorkam, traf ihn ein Peitschenhieb eisiger Luft ins Gesicht. Er zündete die Öllampe an und las noch einmal die gerichtliche Vorladung. So unglaublich es auch erscheinen mochte, er sollte wegen des Mordes an Anna Tagliapietra und des Kindes, das sie im Schoß trug, verhört werden. Seine Gedanken flogen schnell. Schon durch die Anweisung, die ihm nur verbot, die Stadt zu verlassen, wurde klar, dass es Zweifel an seiner Schuld gab, und offensichtlich hatten die Zehn keine sicheren Beweise, sonst hätten sie ihn gleich verhaftet. In zwei Wochen sollte er vor Gericht erscheinen. Er hatte Zeit. Allerdings verbot ihm die Vorladung, Venedig zu verlassen. Er faltete das Blatt zusammen und löschte das Licht.
Wenn Sofia in San Servolo bleibt, wird sie sterben. Ihn überlief ein Kälteschauer, und er steckte den Kopf wieder unter das Kissen. Eine Welle der Angst schlug über ihm zusammen. Das war sein letzter Gedanke, bevor der willkommene Schlaf ihn übermannte.
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Der Karneval hatte dem Palazzo Ducale einen gewaltigen Zustrom an Menschen beschert. Als Simone Simoncin aus den Amtsräumen der Signori di Notte al Criminal kam, in der Hand das Papier, das ihm die Freiheit zurückgab, fand er sich auf dem Innenhof inmitten einer Menge aus Männern und Frauen, Jungen, Mädchen und Kindern, viele von ihnen maskiert. Glücklich und erleichtert ließ er sich in den Strom hineinziehen, im Geiste der seligen Jungfrau Maria dankend, der er viele Gebete gewidmet hatte, und die Gerichtsbarkeit Venedigs segnend, die einen armen Unschuldigen zu erkennen wusste. Er sah den Assassino, der eine Sonderschicht hatte, mit anderen Wärtern an den Fenstern des Gefängnisses stehen. Sie waren damit beschäftigt, Freunde und Verwandte der Gefangenen daran zu hindern, Karnevalsgebäck in die Fenster ihrer Lieben zu werfen, die sich mit ausgebreiteten Armen an den Gittern drängten. Alles hatte sich in ein großes Spiel verwandelt. Ihm war, als würde der Assassino ihn beobachten. Beim Anblick dieses bösartigen Folterknechts schauderte ihm, dennoch hätte er ihn vor Freude umarmen können.
Dann erlaubte er sich eine Leichtfertigkeit, die nur ein Unschuldiger wagen konnte. Bevor er diesen Ort der Folter floh, ging er zu dem Stand, wo Gebäck verschenkt wurde und ließ sich ein Säckchen geben, das er seiner Familie in Burano mitbringen wollte.
Obwohl es ein strahlender Tag war und die Sonne hoch stand, lag der Ostteil des Innenhofs im Schatten, und unter dem Portikus wurde der Schatten zur Eiseskälte. Hier stand Annina, die Augen auf das starke Gitter des Gefängnisses geheftet, denn man hatte ihr erlaubt, mit ihrem Mann Bepo zu sprechen. Er beruhigte sie, die Anschuldigungen seien haltlos, bald, vielleicht sogar schon morgen, am Aschermittwoch, würde man ihm die ersehnte Freiheit zurückgeben. Annina band eine Strickjacke und wollene Hosen an das Seil, das ihr Mann heruntergelassen hatte. Visdecazzòn kontrollierte, ob nichts Verdächtiges dabei war, und nachdem er eine Münze erhalten hatte, gab er seine Erlaubnis. Bepo Rosso zog an dem Seil, und die Kleidungsstücke schwebten in die Höhe, um hinter dem Eisengitter zu verschwinden.
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An Feiertagen ließ Ermonia sich neben den Ofen bringen und blieb dort bis zum Abend, eingehüllt in die Wärme ihrer Erinnerungen. So auch an diesem Faschingsdienstag. Pierin und Sgorlon hatten ihr geholfen, vom Bett aufzustehen und sich in den gepolsterten Stuhl zu setzen. Tapegio hatte Wasser, die Flasche Wein, Aal und Brot gebracht und auf eine Werkbank gestellt. Wie immer hatte Ermonia kontrolliert, ob die Kleider ihrer drei Arbeiter in Ordnung und ihre Hände sauber waren, vor allem die Fingernägel. Das tat sie sorgsam und liebevoll wie eine Mutter. Sie hatte jedem zwei Lire gegeben, für das Boot nach San Marco und ein Mittagessen in der Osteria. Damit konnten sie den Mädchen Apfellikör anbieten und einen Spaziergang mit ihnen machen, um sich die außergewöhnliche Wiederholung des Flugs vom Campanile anzusehen, der normalerweise nur am Karnevalsdonnerstag stattfand. Ein verwegener Bursche, dem man Flügel an die Schultern geheftet hatte, flog an Seilen von einem Boot bis zur Spitze des Campanile hinauf und von dortzum Palazzo Ducale, um dem Dogen Blumen und Sonette darzubieten.
An diesem Dienstag, dem letzten Tag des Karnevals, waren die drei fröhlich und
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