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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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Eis gefiltert wurde, fand das Duell zwischen Andrea und der Äbtissin statt, die, beide in schwarze Gewänder gehüllt, einander gegenüberstanden. Ein paar Schritte hinter den beiden warteten ihre Sekundanten: auf der einen Seite Bernardo in seiner neuen Rolle als Arzt, die Tasche in der Hand, auf der anderen die vorgesetzte Nonne des Klosters, die den Korb mit Andreas Geschenken trug.
    »Warum sollte ich Eurer Bitte entsprechen, Avvocato?«
    Eisige Stille entstand im Kapitelsaal. Andrea hatte den Brief seines Vaters in der Tasche, und einen Augenblick lang war er versucht, ihn der Äbtissin zu überreichen. Das persönlich an sie gerichtete Schreiben war eine Übung in diplomatischer Ausgewogenheit zwischen dem Anrecht des Dogen auf das Juspatronat über die Krankenhäuser und Hospize Venedigs und der Sorge eines Vaters, der auf das Wohl der Söhne und Töchter der Serenissima bedacht ist. Darum zollte der Doge den Benediktinerinnen von San Servolo seine Anerkennung für ihren undankbaren, heldenhaften Dienst im Geiste christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit.
    Wenn die Äbtissin diesen Brief las, würde sie sich der Bitte, eine weitere ärztliche Untersuchung von Signora Ruis zuzulassen, kaum entziehen. Und genau hier lag das Problem, denn der Einsatz dieser mächtigen Waffe würde den Dogen zwangsläufig in die Entführung hineinziehen und verheerende Folgen für ihn haben. Das wollte Andrea nicht. Er fühlte sich in einer Sackgasse, denn wenn er diese Gelegenheit nicht nutzte, würde es keine zweite mehr geben. Er setzte eine resignierte Miene auf und wandte sich an die Äbtissin.
    »Ehrwürdige Mutter, steht es mir etwa zu, Euch an jene Worte Jesu erinnern, die eine der wichtigsten Lehren der Benediktinerregel sind: Ich war krank, und ihr habt mich besucht ?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ich mir nicht erlauben. Daher bitte ich Euch demütig um Vergebung.« Er verbeugte sich und sagte zu Bernardo: »Kommt, Dottore, wir kehren in den Palast zurück. Seine hochverehrte Exzellenz, der Nuntius, wird unendlich betrübt sein.«
    Bernardo zögerte, überrascht von diesem plötzlichen Rückzug, konnte jedoch nur nicken, ebenfalls unterwürfig den Kopf vor der Äbtissin neigen und Andrea zum Ausgang folgen.
    Sie hatten erst wenige Schritte zurückgelegt, als die Ordensfrau plötzlich rief: »Wartet!«
    Andrea schloss die Augen, und seine Miene hellte sich auf. Er drehte sich um. Die Äbtissin blickte ihn prüfend an.
    Eine gute halbe Stunde musste vergangen sein. Andrea und Bernardo begannen, sich Sorgen zu machen. Sie waren allein imKapitelsaal zurückgeblieben und hatten eine ungefähre Vorstellung vom Ablauf der Flucht entwickelt: Bernardo würde anfangen, Sofia zu untersuchen, bis die Spannung sich legte. Dann würde Andrea Sofia auf den Arm nehmen und los, im Laufschritt aus dem Kapitelsaal, durch den Kreuzgang, an der Kirche vorbei, aus dem Garten heraus bis zu den Booten, die am Ufer vertäut lagen. Bernardo würde ihre Flucht decken.
    Doch jetzt, nachdem sie alle anderen Varianten dieses verzweifelten Plans verworfen und so lange gewartet hatten, fürchteten sie, dass die Äbtissin den Betrug gewittert und nach den Sbirren der Giudecca geschickt haben könnte. Außerdem war inzwischen Mittagessenszeit, aus der Küche kamen Essensgerüche, und hinter der Tür zum Kreuzgang hörte man das Scharren von Schritten und die Gebete der Nonnen, die sich ins Refektorium begaben.
    »Signori, entschuldigt.«
    Andrea und Bernardo, die vor der Tür zum Kreuzgang standen, drehten sich um: Die Äbtissin kam ihnen aus der gegenüberliegenden Tür entgegen. »Wir haben das arme Mädchen vorbereitet. Ich bitte Euch nur darum, sie nicht zu ermüden, sie ist sehr schwach.« Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da erschien, von der Klostervorsteherin und einer Novizin gestützt, Sofia auf der Schwelle. Sie kam mit schlurfenden Schritten näher, ihr Blick war starr, abwesend, als konzentrierte sie sich darauf, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Sie trug ein helles Gewand aus Hanf, das ihre Füße in Wollbabuschen unbedeckt ließ. Um den Kopf hatte sie einen Schal, der ihre Schultern bedeckte und bis zu den Hüften herabfiel.
    Bernardo wollte ihr entgegengehen, aber Andrea hielt ihn am Arm fest. Sie wechselten einen raschen Blick, und der Arsenalotto verstand sofort, dass er ein distanziertes Verhalten wahren musste.
    »Lasst sie sich hinsetzen«, sagte er, wobei er versuchte, seinen Dialekt zu verbergen.

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