Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
sollten, außer beten.
Rasch löste Bernardo das Tau, das die Mascaréta am Anleger hielt, warf es ins Boot, nahm das lange Ruder, das über Bord ragte und ließ es kreisen. Er traf den Mann an der Schläfe, und der Schlag war so gewaltig, dass er drei oder vier Schritt zur Seite geschleudert wurde und mit dem Gesicht voran in den Sand fiel. Bernardo reichte Andrea das Ruder.
»Nimm!«
Beide begannen, die Mascaréta ins Wasser zu schieben. Als es Andrea bis an die Oberschenkel reichte, sprang er ins Boot. Bernardo aber schob das Boot noch weiter hinaus, damit es sofort Wind bekommen konnte. Er sah nicht, was am Ufer geschah. Der Junge, das Gesicht blutverschmiert, trat ein wenig zurück, holte aus und schleuderte die Mistgabel auf Bernardo. Das Werkzeug vollführte einen Halbkreis in der Luft und bohrte sich in Bernardos Oberschenkel, als er sich gerade am Bug hochhievte. Mit einem Schmerzensschrei riss der Arsenalotto die Gabel aus seinem Fleisch und ließ sich ins Boot fallen.
»Los, fahrt!«, schrie er.
Andrea drückte die Ruder entschlossen mit dem Blatt voran ins Wasser. Er spürte, wie sie, sich in der Gabel biegend, das Wasser ergriffen. Das Boot war jetzt schwer beladen und bewegte sich träge wie eine Kuh. Ein Ruderschlag, noch einer. Dann nahm es Fahrt auf und wurde leichter. Andrea machte kürzere, rasch aufeinander folgende Stöße und spürte, dass der Schub der Vorwärtsbewegung über die Trägheit der Masse siegte. Nun war keine Zeit zu verlieren. Schnell ergriff er das Fall und setzte das Segel. Zum Glück gab es genügend Ostwind, das Segel blähte sich bebend auf. Sofort neigte sich das Boot. Andrea stieß das rechte Ruder am Heck ins Wasser und drückte gegen die äußere Seite der Rudergabel. Das Ruder wurde zum Steuer, die Mascaréta fuhr schneller, und das Wasser begann zu gurgeln. Der Wind wurde schärfer. Andrea sah die Nonnen am Ufer aufgereiht, reglos. Das Schilfrohr bog sich im Wind.
»Bernardo!«, rief er.
Bernardo hob den Kopf, sah ihn an und lächelte.
Noch immer läutete die Sturmglocke von San Servolo, und im Gegentakt hatte sich die Glocke von Sant’Antonio in Castello dazugesellt. Andrea hörte die Schläge und überlegte, dass der Alarm sich bald bis nach San Marco ausbreiten würde. Er steuerte direkt auf die Nordspitze des Klosters zu, wo der Palisadenzaun zu einer Steinmauer wurde. Das Manöver war gefährlich, aber er streifte die Spitze nur und ruderte, der Gefahr entronnen, am windgeschützten Ufer entlang, wo das Wasser hellblau wurde. Sie waren im Kanal. Er richtete den Bug auf die Insel Santa Maria di Grazia und öffnete noch einmal das Segel. Sie hatten den Ostwind voll im Rücken.
113
Der Erste, der die beiden Fregatten der Zehn sah, war Bernardo. Er saß auf der Leeseite, das Gesicht zum Heck, den Rücken an die Ruderbank gelehnt, wo der Mast befestigt war. Das verletzte Bein hatte er auf der Wegerung ausgestreckt. Er sah die Fregatten im Canale dell’Orfano, die schwarzen Striche der Ruder, die auf das Wasser schlugen.
»Da sind sie!«, sagte er, auf einen Punkt hinter Andrea zeigend.
Andrea blickte hinter sich. Obwohl die beiden Schiffe, von San Servolo kommend, noch etwa eine Meile entfernt waren, erkannte man sie an dem hohen, gerundeten Bug. Auch die zunehmende Geschwindigkeit ließ sich anhand der synchronen Bewegungen der Ruder erahnen. Er sah sich um: Es gab zwar viele Segel, aber keines war weinrot wie das ihre. Sie brauchten das Segel, um schnell zu sein, aber es war auch ein meilenweit sichtbares Erkennungsmerkmal. Man hatte sie bereits entdeckt. Er schätzte die Geschwindigkeit der Mascaréta auf drei Knoten. Die Fregatten waren mindestens doppelt so schnell. In einer Stunde würden sie sie erreicht haben.
Kapitän Negricchio, am Heck stehend, hielt die Ruderpinne und gab den Takt mit einer Folge von »Oh«-Rufen vor, die die ersten Ruderer rhythmisch wiederholten und in Ruderschläge umsetzten. Auf jeder der neun Bänke saßen zwei Ruderer, alle Rücken beugten sich gleichzeitig und reckten sich vor, um die Ruder zu ziehen. Die Bewegungen waren synchron und perfekt, die Blätter kamen flach aus dem Wasser, um schräg, fast senkrecht wieder einzutauchen, ohne dass Wasser aufspritzte.
Am Bug des Schiffs saßen zwei Männer: der Lotse der Lagune, ein schmächtiger Mann mit Mütze, Kittel und Pelz, der auf das Wasser spähte und mit jähen Armbewegungen nach rechts und links die sandigen Untiefen und allzu dichte Algenbänke anzeigte, der andere
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