Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
er den Strick los, ohne den Fall abzudämpfen. Der Gefangene spürte das Schnalzen der Bänder an seinen Gelenken und eine Lanze, die sich ihm in die Achselhöhle bohrte. Dann spürte er, wie seine Arme sich von den Schultern lösten, sein Körper zerriss. Der Schmerz wurde zu etwas Eigenständigem, zu einem Ding aus der Vergangenheit, das ihm nicht mehr gehörte. Das Letzte, was er wahrnahm, bevor Dunkelheit ihn umfing, war der warme Urin, der an seinen Beinen herablief.
»Bringt ihn weg«, befahl Formento trocken. »Ihn und den Mönch da oben.« Während die beiden Kerkermeister sich beeilten, den bewusstlosen Gefangenen vom Strick zu lösen, blätterte der Sekretär wieder in dem Verzeichnis. Der Florentiner wurde auf das Tuch gelegt, die Kerkermeister hoben es hoch und gingen mühsam, mit kleinen Schritten, zur Tür.
»Weiter mit dem Nächsten«, sagte Formento zu Puti.
Der Folterknecht nickte mit der Trägheit der Riesen, während er das Zimmer durch die gegenüberliegende Tür verließ. Fast sofort kehrte er in Begleitung des Alten zurück. Er hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und schob ihn behutsam vorwärts, als wäre er sein Sohn, um den Vater besorgt, den er um mindestens zwei Spannen überragte. Der Alte trug eine Tunika aus grobem, braunem Tuch und Holzschuhe. Eine Bekleidung, die zusammen mit dem weißen Haar, dem Bart und der extremen Magerkeit an einen Propheten denken ließen, der unter das Beil der Inquisition gefallen war. Ihm folgte ein Mann um die sechzig mit Barett und langer, schwarzer Toga, unter deren weitem Halsausschnitt man das weiße Hemd sah. Puti begleitete den Gefangenen bis vor Formentos Schreibtisch. Dann trat er zwei Schritte zurück, und der Mann in der Toga nahm seinen Platz ein. An diesen wandte sich Formento in höflichem Ton.
»Nun, Membré, mein Freund, habt Ihr aus unserem geschätzten Gast etwas Neues herausbekommen?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Alles, was ich erfahren konnte, Eccellenza «, sagte er verwundert, »ist, dass er aus U ş ak kommt, Teppichhändler ist und wissen will, was aus dem Sekretär geworden ist, der in seinen Diensten stand.«
Formento lachte gekünstelt. »Aha, Signor Mehmet möchte jetzt also die Fragen stellen?« Eine Pause entstand. »Er wird seineInformationen bekommen. Zuvor jedoch muss er uns sagen, was er am vierzehnten September bei Sonnenaufgang auf einer Sandbank eine Meile vom brennenden Arsenale entfernt zu suchen hatte. Los, fragt ihn das.« Formento setzte eine spöttische Miene auf, lehnte sich zurück und sah den Neuankömmling unverwandt an.
Michele Membré, der venezianisch-zypriotische Dolmetscher, übersetzte, wartete die Antwort ab und wandte sich wieder an Formento: »Er dankte Gott, dass er ihn aus dem Feuer gerettet hatte.«
Der Sekretär ballte die Faust, beherrschte sich, um den Gefangenen nicht ins Gesicht zu schlagen, und seufzte. »Mehmet bey !«, sagte er dann mit ironischer Betonung des bey, um den unpassenden Gebrauch der höflichen Anrede zu unterstreichen. »Kann es sein, dass Euer Gedächtnis Euch noch immer im Stich lässt?«
Formento gab Membré ein Zeichen, worauf der die Worte des Sekretärs rasch übersetzte. Der Alte lächelte darauf leicht, zuckte mit den Schultern und spulte ebenso rasch einen agglutinierten Satz ab, den der Dolmetscher eilig entwirrte: »Er sagt, alles, was er zu sagen hat, hat er schon gesagt, und er will einen Anwalt, der ihn verteidigt.«
»Sagt ihm, er hat kein Recht auf einen Anwalt!«, erwiderte Formento verärgert. »Sagt ihm, wenn er nicht redet, werden wir ihm Schmerzen zufügen!«
Membré übersetzte. Der Alte lächelte erneut höflich und antwortete.
»Der Gefangene sagt«, hub der Dolmetscher an, »dass es zwecklos ist, einen Krug umzukippen, wenn der Wein schon getrunken ist. Und er wiederholt, dass er nichts zu verbergen und zu sagen hat, er möchte nur etwas über seinen Sekretär erfahren.«
Formento ballte beide Fäuste, die Muskeln seines Kiefers zuckten. Er senkte die Augen auf das Verzeichnis, das vor ihm lag. Er dachte an etwas anderes, trotzdem blätterte er nervös eine Handvoll Seiten um. Dann nahm er die Feder, tunkte siein das Tintenfass und schrieb kratzend einen Satz auf das Papier. Schließlich wandte er sich an Bartolomeo Puti.
»Einmal Reißen«, sagte er ruhig.
Das Gesicht des Giganten aus dem Arsenale legte sich in Falten wie ein Lappen, der zusammengeknüllt wird.
»Aber er ist alt …«
»Häng ihn auf!«, befahl der
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