Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
mit einem Licht, ein Novize folgte ihm. In der Mitte gingen der Abt und seine fünf Gäste. Andrea und Tomei waren die anderen Laternen anvertraut worden. Gabriele ging neben Sofia, um ihr zu helfen. Den Schluss bildeten ein Novize und Frate Cristoforo. Die versteckte Tür wurde geschlossen, der Schlüssel umgedreht.
Sie befanden sich in einem Hohlraum der Apsiswand. Bevor es weiterging, wandte der Abt sich an seine Gäste und erklärte, dass dieser Gang über viele Treppen, Stollen und mehrere in den weichen, weißen Stein gehauene Räume in die Tiefen des Berges hinabführte. Sie würden auf dem Weg außergewöhnliche und interessante Dinge sehen, über die sie Schweigen bewahren müssten, wie in der Beichte.
Die gutmütigen Augen des Abts ruhten auf Gabriele, der, als er die Ermahnung begriffen hatte, seine zu einem Kreuz zusammengelegten Zeigefinger küsste und feierlich schwor. Andrea entging nicht, dass Jacomo nicht die geringste Gefühlsregung zeigte und sich recht wohl zu fühlen schien, als kenne er diesen Ort sehr genau.
Der Hohlraum endete an einem Tor. Der Abt wählte einen Schlüssel aus und ermahnte die Gruppe, vorsichtig hinabzusteigen, während er das Tor öffnete. Diese erste Treppe aus Ziegelsteinen führte in Windungen abwärts, so dass das Licht der Laternen mal schwächer wurde, mal aufleuchtete und die Schatten der Hinabgehenden tanzen ließ. Manchmal hörte man den düsteren, furchterregenden Schrei, den der Wind ausstößt, wenn er sich vom unendlichen Raum auf einen winzigen Spalt zusammenpressen muss.
»Kanntet Ihr diesen Ort?«, fragte Andrea leise. Jacomo nickte nur.
Sie gelangten zu einer Eisentür. Von dort kam das Geräusch des Windes. Dieses Mal dauerte es länger, bis die Vorhängeschlösser und Riegel geöffnet waren. Als der Abt den Türflügel bewegte, traf der Windstoß sie jäh mit aller Macht, wirbelte Haare und Kleider auf, und sogar die Flämmchen in den Laternen drohten zu erlöschen. Es war wärmere Luft, wie sie in den Kellergewölben steht, wo Wein gelagert wird und wo eine gleichmäßige Temperatur herrscht, die im Winter als warm und im Sommer als frisch empfunden wird. Der alte Mönch und der Novize ergriffen zu zweit die Eisentür und zogen sie zu sich heran. Mit wütendem Heulen kämpfte der Wind gegen das Schließen des Spalts.
Nun begannen die Treppen, wie der Abt angekündigt hatte. Andrea drückte sich an Jacomos Seite.
»Wie viele Dinge habt Ihr mir noch zu sagen, die mich zum Staunen bringen?«, fragte er verstimmt.
Jacomo schien eine Weile darüber nachzudenken.
»Eine ganze Menge, aber es fehlt die Zeit«, sagte er, während sie weiter hinabstiegen.
»Wir werden doch wohl eine Weile zusammen sein, mindestens bis Florenz.«
Der Alte zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Ihr geht nach Florenz, ich bleibe hier.«
Andrea hätte ihn gern am Arm gepackt, damit er stehen blieb und sich erklärte, aber die Gruppe ging weiter, er konnte es nicht tun.
»Es ist Wahnsinn, hierzubleiben! Man wird Euch nach Venedig zurückbringen! Man wird Euch hängen!«
»Wenn die Aufgabe erfüllt ist, habe ich nichts mehr zu tun.«
Jacomos Schicksalsergebenheit erschien Andrea aufrichtig, und er fand keine Worte für eine Erwiderung. Doch sein Beruf als Anwalt und vor allem die unerklärliche Zuneigung, die er für diesen so lügnerischen und so mutigen Mann empfand, drängten ihn zu einer Reaktion.
»Das verstehe ich nicht, nachdem Ihr immer Eure Unschuld beteuert habt, wollt Ihr nun den Richtern diese letzte Ungerechtigkeit ermöglichen?« Er wartete auf eine Antwort, die nicht kam. »In Florenz werden wir die Verteidigung für einen gerechten Prozess vorbereiten.«
»Danke, aber ich bin alt. Ich habe kein Interesse mehr daran«, sagte Jacomo wie nebenbei.
Andrea wollte dem etwas entgegnen, doch Gabrieles Stimme lenkte ihn genau in dem Moment ab, als die Treppe in eine horizontale Fläche überging.
»Seht doch nur, Mutter, seht die Mauern!«, sagte der Junge staunend und zeigte auf die Wand, die nicht mehr vom Kalkstein weißlich schimmerte, sondern in eine spiegelnde Fläche verwandelt zu sein schien, als wäre sie aus Eis. Die Sinnestäuschung währte einen Augenblick, denn im Licht der Laternen erblickte man nun hinter dieser durchsichtigen Oberfläche unzählige Reihen ordentlich aufgestellter Bücher. Sie standen hinter Glas. Andrea strich mit dem Finger über die Oberfläche. Es waren rechteckige Behältnisse aus Glas, drei Fuß breit und zwei Fuß hoch,
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