Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
graviert. Legte man die sieben nummerierten Glasscheiben auf die Seiten des Buches, die die Zahlen I, II, III, IV, IX, VIII, XXVII trugen, ließ sich der griechische Text aus den Buchstaben in den Kreisen innerhalb einer Stunde zusammensetzen. Andrea schrieb ihn Buchstabe für Buchstabe auf ein Papier, dann übersetzte er.
Venedig, 4. Mai 1542. Im Namen Gottes und der Seligen Jungfrau Maria.
Andrea, mein geliebter Sohn, wenn du diese Zeilen liest, wie es mein ausdrücklicher Wille ist, wirst du ein Mann geworden sein, der die volle Bedeutung der Liebe, des Verzeihens und aller anderen Regungen der Seele zu verstehen vermag. Mir wurde die unendliche Freude zuteil, dich auf die Welt kommen zu sehen und dich gesund zu wissen. Gerne hätte ich dich geliebt wie jede Mutter. Der Allmächtige hat anders entschieden, und ich muss mich seinem Willen beugen. Es ist mir nicht gegeben, dir zu erklären, was nicht einmal die Unermesslichkeit des Himmels umfassen könnte, doch ich biete dir die Möglichkeit, meine Geschichte und die des Bundes der Wächter kennen und verstehen zu lernen, wenn du es willst. Ich hinterlasse d ir diese Schrift mit vielen Geheimnissen über das Feuer, das Wasser, die Erde und die Luft. Anderes wirst du in den Büchern finden, die ich gesammelt und gerettet habe. Das alles wird in Murano im Viertel Santo Stefano in der Glashütte Vivarini aufbewahrt, wo das Glas geformt wird, um dann zu ruhen. Meiner geliebten Freundin Lucia Vivarini vertraue ich die Aufgabe an, dir zu helfen, damit du verstehst und den Weg weitergehst.
In unendlicher Liebe. Deine Mutter Lucrezia.
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Das schmerzlindernde Mittel aus Öl, Fett und Ulmenrindenextrakt, das Angelo Riccio für zwei Lire bei einem Arzneihändler auf dem Campo Santi Filippo e Giacomo gekauft hatte, tat seine Wirkung. Der Apotheker, ein gewisser Santo Locatello, der seinem Namen alle Ehre machte, hatte ihm persönlich die Salbe auf die Verbrennungen gestrichen und sie mit Gaze verbunden. Riccio hatte sich sofort besser gefühlt. Andererseits war die Apotheke, wie viele andere auch, Tag und Nacht geöffnet, um die zahlreichen Verletzten durch Feuerwerkskörper, improvisierte Freudenfeuer und alle anderen unfreiwilligen Missgeschicke zu behandeln, die dieses tagelang andauernde Fest hervorrief.
Dergestalt durch die medizinische Versorgung gestärkt und von Rachegedanken getröstet, schickte dieser Frate, der das geistliche Gewand seit langem abgelegt hatte, sich an, den Weg der Bestrafung all jener, die ihn lächerlich gemacht hatten und der Grund für seine Leiden waren, in umgekehrter Richtung zurückzulegen. Dass Gott auf seiner Seite war, war ihm abermals bestätigt worden, als er, in der Kirche mit Andrea Dolfin auch Andrea Loredan und seinen Timaios wiedergefunden hatte.
Irgendwann im Morgengrauen war er Andrea durch halb Venedig fast bis zur Celestia gefolgt, hatte auf ihn gewartet, indem er sich unter die Feiernden in den Sagredo-Häusern mischte,und war wieder zu Andreas Schatten geworden, als dieser in die Locanda della Torre zurückkehrte. Er hätte sogar mit Gottes Hilfe das Schicksal herausgefordert und sich dort einquartiert, wenn es noch ein freies Bett gegeben hätte. Doch der Herr hatte anders verfügt, und so musste der afrikanische Diener ihm nur die großen Segel zeigen, die über den Campo San Lorenzo gespannt waren, um der Menge ein wenig Schutz zu bieten. Riccio hatte nicht gezögert und war über die dreibogige Brücke gegangen, um sich in diesen Menschenwirbel zu stürzen, den Ausgelassenheit und Wein in einen Reigen der Verdammten verwandelt hatten. Freilich war er bedacht gewesen, am Rand zu bleiben, am Ufer des Rio, um die Tür der Locanda im Auge zu behalten und gleichzeitig den Versuchungen des Festes zu entgehen.
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Den Weg nach Murano durch die Lagune kennzeichnete eine Reihe beleuchteter Pfähle, die in der Gischt des vom Wind aufgepeitschten Wassers verschwand.
Wegen der starken Tramontana mussten die außerordentlichen Fähren, die die Nachtfahrten zwischen San Canciano und Murano versehen hatten, an der Mauer des Oratoriums der Crociferi Schutz suchen. Die Wellen waren hoch, man konnte den Fährdienst nur noch mit großen Segelbooten aufrechterhalten. Sie fuhren von der weiter nördlich gelegenen Santa Caterina los, wo der Wind sie seitlich traf, und kehrten aus Murano mit dem Heck voran nach Santa Giustina zurück.
Andrea hatte in dieser Nacht zum dreifachen Preis eine Tartane mit zwei Masten genommen, zusammen
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