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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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errichten.
    Unklare Punkte gab es freilich zuhauf. Zunächst diese Geschichte von den Botschaften und dem geheimnisvollen Auftraggeber. Wer war dieser Pilger auf der Reise ins Heilige Land? Wurde er in Mestre gesucht? Außerdem sprang das Missverhältnis zwischen dem Diebstahl in der Kirche und einem der schändlichsten Verbrechen – dem Brudermord – sofort ins Auge. Während des Ermittlungsverfahrens ließ sich die Vermutung, andere hätten Tonino ermordet, daher durchaus aufrechterhalten. Und war das visum et repertum am Leichnam des Kindes durchgeführt worden? Die Verletzung, die Tonino in Höhe des Herzens aufwies, war sehr eigentümlich. Andrea hatte sie gesehen, sie wirkte eher wie ein Insektenstich als ein Stich mit demStilett. Kurzum, Andrea hatte das deutliche Gefühl, dass man in der Atmosphäre des Notstands, die nach der Explosion des Arsenale herrschte, für Gabriele weniger ein ordentliches Untersuchungsverfahren als einen Inquisitionsritus nach Art des Rates der Zehn vorbereitete. Und dabei gab es sehr wenige Garantien für den Angeklagten.
    Schon überfielen ihn neue Gedanken, die er bis zu diesem Moment zurückgehalten hatte, überrollten die anderen und verschlangen sie. Diesmal ging es um ihn selbst. Er dachte an das, was an diesem Tag in San Giacomo geschehen war, an die Worte, die die Novizin ihm hatte zuflüstern können, an den plötzlichen Tod der alten Nonne und vor allem an die Einladung von Lucia Vivarini, der Äbtissin, die Begegnung mit der Sterbenden in der Krypta, wo sie ihn erkannt und erwartet hatte, und ihre Worte: »Suche furchtlos, in den Edelsteinen des Himmels und in der Seele wirst du die Wahrheit finden.« Was hatte sie ihm damit sagen wollen?
    Andrea fühlte sich in einen Strudel aus unbekannten Zweifeln und Fragen gesogen. Es war, als hätte der große Knall in der Nacht der entsetzlichen Verwüstung die reglose, feuchte Rinde der Stadt durchbohrt, und aus diesem Loch rannen nun saure, faulige Tropfen der Unterwelt und vergifteten die Luft und das Wasser Venedigs. Andrea ahnte, dass die Stadt von diesem Tag an nicht mehr dieselbe sein würde.
    Zwei Zaffi, Sbirren in Kittel und Kniehosen, tauchten aus der Calle della Pietà auf und begannen, die armen Teufel, die auf der Straße schliefen, mit Tritten zu vertreiben. Diese erhoben sich jammernd, benommen vom Schlaf und vom Wein. Es waren Männer jeden Alters, vor allem junge Venezianer, aber auch Albaner, Kroaten, Dalmatiner und ein paar Schwarze aus Algerien, wie der Koloss, der sich gerade aufrappelte. Sie waren Träger, die am Kai schliefen, um im Morgengrauen in der ersten Reihe zu stehen und die Schiffe ausladen oder beladen zu können. In Lumpen gewickelt, wachten sie auf, sammelten ihreSachen ein und verlagerten sich hundert Fuß weiter. Die Sbirren ließen sie ein paar Stunden schlafen, um dann wieder Tritte auszuteilen.
    Während er über den Ponte dei Greci ging, eine der vier Brücken an diesem Ufer, dachte Andrea an die Idee des Rechts und der Gerechtigkeit, für die er viele Jahre lang studiert hatte. Er dachte an die egalitären und rechtsverbindlichen Eigenschaften der Justiz, die Patrizier, Bürger und Leute aus dem Volk, Regierende und Regierte gleichermaßen betrafen. Alle waren vor dem Gesetz gleich: Das Gesetz galt für den Sohn des Dogen ebenso wie für den Sohn eines Schusters.
    Dass Venedigs Größe so viele Jahrhunderte überdauert hatte, verdankte die Stadt auch ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Gerechtigkeit beim Prozess, Strafgewissheit. Für alle, ohne Unterschied. Es war wichtig, dass das Volk darauf vertraute. Auch er vertraute darauf, schon immer. Dies war sein Glaube. Darum hatte er an der Universität Padua Recht studiert.
    Und er dachte an seinen Vater Pietro, der ihm zur bestandenen Promotion die erste und kostbarste italienische Ausgabe von Platons Der Staat geschenkt hatte, in der Übersetzung von Panfilo Florimbene, gedruckt in Venedig. Andrea hatte sie in einem Tag und einer Nacht durchgelesen. Später hatte er sie oft wiedergelesen. Platons Widerlegung der These, dass die wahre Rechtsprechung in der Kunst bestehe, Freunden Vorteile zu verschaffen und Feinden zu schaden, hatte er auswendig gelernt. Wie oft hatte er sie in Korruptionsfällen zitiert! So wie er einen anderen berühmten Aphorismus im Gedächtnis behalten hatte, einen von Tausenden: »Wenn ein Staat aus lauter guten Männern bestände, so würde man sich um das Nichtregieren ebenso streiten wie jetzt um das

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