Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Regieren …« Wenn er diesen Satz seinem Vater zitierte, erinnerte der ihn daran, dass er selbst sich stets genau so verhalten hatte. Noch immer hatte Andrea nicht verstanden, ob sein Versuch, die Dogenwürde abzulehnen, seiner Ehrlichkeit oder seinem Wunsch nach einem ruhigen Leben zuzuschreiben war. Von der Prophezeiung des Sufi-Mönchs hatte der Vater ihm nie etwas erzählt.
Er dachte an den römischen Juristen Ulpian, an seine drei Grundregeln, auf die man eine effiziente Justiz aufbauen muss: Ehrlich leben, dem Mitmenschen keinen Schaden zufügen und jedem das geben, was er verdient.
Andrea dachte an seinen Enthusiasmus als frisch promovierter Jurist. Sein Vater war so glücklich über diesen Abschluss gewesen, dass er ein großes Fest im Palazzo am Campo San Pantaleone veranstaltet hatte. Denn er hätte Andrea gerne als Anwalt gesehen, aber als einen Anwalt, der sich mit den Familiengeschäften befasste, nicht als »Anwalt der armen Schlucker«. Auch die ersten Misshelligkeiten mit Taddea waren durch diese Entscheidung entstanden. Im Grunde verstand er beide. Andrea war zusammen mit seinem Bruder Alvise Erbe des wirtschaftlichen Imperiums von Pietro Loredan. Und er hatte monatelang mit seinem Vater gestritten, nachdem im Rat darüber diskutiert worden war, ob Andrea weiter als Gefängnisanwalt arbeiten durfte oder nicht. Denn die Regeln des Dogeneides waren unmissverständlich: Die Söhne und Brüder des Dogen durften keinerlei »bürgerliche und kirchliche Ämter, Aufgaben und Würden« bekleiden und waren sogar vom Stimmrecht im Großen Rat und im Senat ausgeschlossen. Freilich hatte Sebastiano Venier in der Ratssitzung mit seinen rhetorischen Künsten beweisen können, dass Andrea sich, wenn er weiterhin im Sold des Staates mittellose Gefangene verteidigte, ganz sicher nicht bereichern konnte, sondern im Gegenteil vielen Anwälten, die ihre Verpflichtung in ein einträgliches Geschäft verwandelt hatten, ein Vorbild sein würde. Außerdem waren die Gefängnisse überfüllt, und man musste eher noch mehr Anwälte einstellen, anstatt einen zu entlassen.
Später hatte Andrea dann herausgefunden, dass es sein Vater gewesen war, der das Problem der Unvereinbarkeit zwischen Andreas Beruf und seiner Verwandtschaft mit dem Dogenaufgebracht hatte. Er wollte Andrea wieder in seinem Stall haben.
Doch zum endgültigen Bruch war es am 28. Juni dieses Jahres gekommen, als der Rat der Zehn das Anliegen des Apostolischen Nuntius Giovanni Antonio Facchinetti, den Kampf gegen die Ketzerei, aufgegriffen und mit sechsundzwanzig Ja-Stimmen, einer Nein-Stimme und einer Enthaltung das allgemeine Gesetz über die vorbeugende Zensur beim Verkauf von Handschriften, Büchern und ausländischen Publikationen erlassen hatte, das auch die Zollkontrolle wichtiger Schriften vorsah.
Andrea hatte alles versucht, um seinen Vater davon zu überzeugen, sich öffentlich gegen dieses Gesetz auszusprechen, welches die Freiheit der Presse praktisch abschaffte, indem es die Drucker und Verleger dem Inquisitionsgericht auslieferte und damit einen weiteren Grundpfeiler jenes liberalen Klimas demontierte, das man seit jeher in Venedig atmen durfte. Die Ablehnung des Dogen wäre ein maßgebliches Vorbild für die Unsicheren und Ängstlichen gewesen. Nichts zu machen. Das Gesetz war verabschiedet worden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Serenissima Repubblica hatten Regierung und Kirche ein Triumvirat aus einem Vertreter der Inquisition, einem Regierungsvertreter und dem Dogensekretär gebildet, das die Übereinstimmung literarischer Texte mit den vom Konzil von Trient festgelegten kanonischen Vorschriften zu prüfen hatte. War die Prüfung durch die Zensoren bestanden, würden die Riformatori dello Studio der Universität Padua das endgültige Zeugnis für den freien Verkauf der Bücher ausstellen.
Als sich dann am 9. Juli der Comandador Francesco de Simon bei Tagesanbruch auf den Campo San Giacomo di Rialto begab, um vom Podest auf der Statue des Buckligen aus das neue Gesetz zu verkünden, erwarteten ihn Hunderte Venezianer, Adelige und Bürger, stumm, mit einer schwarzen Binde über dem Mund, und mitten unter ihnen in der ersten Reihe Andrea. An dem Tag hatte er die Dogenwohnung im Palazzo verlassen.
An all das dachte Andrea, während er den Ponte dei Greci schon hinter sich gelassen hatte. Noch ein paar Schritte, und er würde rechts über den Campo San Zaccaria, vorbei an der Kirche Santa Maria Formosa und durch die Calle San
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