Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Lorenzo zur Locanda della Torre gelangen. Ein umständlicher, aber gut beleuchteter Weg, sicherer als andere. Plötzlich war ihm, als hätte sich zwischen den Schatten der Schiffe auf dem Wasser etwas bewegt. Er blieb stehen, spähte angestrengt ins Dunkel, und tatsächlich sah er in der mitunter durch das Schimpfen der Sbirren und den Protest der Arbeiter unterbrochenen Stille die unverwechselbare Silhouette einer Gondel über das Wasser gleiten. Aus Richtung der Insel San Giorgio kommend, überquerte das Boot den Kanal, und nachdem es an drei ankernden Galeeren vorübergefahren war, drehte es nach links ab und folgte der Linie der Ufermauer in Richtung San Marco.
Jetzt hörte Andrea das Schwappen der Bugwellen und die rhythmischen Intervalle der Ruderschläge. Am Heck meinte er einen einzelnen Ruderer zu erkennen, und zwischen den Vorhängen des Gondelzelts leuchtete etwas auf. Um diese Zeit konnte das nur ein heimliches amouröses Stelldichein oder der dringende Besuch eines Arztes sein.
Obwohl die Dunkelheit ihn verbarg, zog er es vor, weiterzugehen, doch als die Gondel sich dem Ufer näherte und in einer Entfernung von weniger als fünf Ellen an ihm vorüberglitt, warf er abermals einen Blick darauf, und was er sah, verwirrte ihn. Der Ruderer war der oberste Aufseher der Gefängniswärter in den Pozzi, den er unter dem Namen Zaneto kannte, und zwischen dem Spalt der Vorhänge sah er ein weiteres bekanntes Gesicht. Andrea versuchte, mit dem Boot Schritt zu halten. Zuàne Formento, der Sekretär der Zehn, dachte er überrascht.
Je länger er hinschaute, desto sicherer wurde er. Rasch steuerte er auf den Ponte del Vin zu und blieb dort stehen, denn weiter hinten wäre er auf die Wachen der Piazza gestoßen, under wollte nicht angehalten werden und die Gondel aus den Augen verlieren. Er beugte sich über das Brückengeländer und beobachtete das Boot, das rasch auf die Mole der Piazzetta San Marco zufuhr und am Ponte della Paglia in den Rio des Palazzo Ducale einbog. Ihm fiel ein Spruch ein, den das stets zu Spott und Klatsch aufgelegte Volk sang: »Nachts begegne nicht den Segretari, sonst gibt’s Tote oder Hiebe.« Ein Gerücht, dem Andrea nie besonderes Gewicht beigemessen hatte.
19
Pietro Loredan wurde von seinen Träumen geweckt. Das geschah immer um dieselbe Zeit: um die achte oder neunte Nachtstunde, je nach der Jahreszeit, der Schwere des Abendessens und dem Quantum Wein, das er getrunken hatte. Und dann hielt die Angst ihn wach bis zum Morgengrauen, wenn der schwache Schimmer die Fenster auf der Ostseite modellierte und das Gewicht auf seiner Seele auflöste wie Wasser eine Salzkrume. Dann nahmen seine Gedanken wieder festere Gestalt an und fügten sich in den Rahmen der Wirklichkeit ein. Die Träume waren immer dieselben, auch die Ängste. Der alte Doge träumte vom jungen Körper Lucrezias, seiner geliebten Frau, und von all den Weisen, in denen er diesen Körper berührt hatte. Er durchlebte sie Nacht für Nacht, intensiv wie damals, und diese starken Gefühlsmomente schichteten sich übereinander, bis sie die Fülle seiner damaligen Liebe erreichten. Je stärker das Gefühl war, desto bitterer war das Erwachen. Gleich darauf begann die Angst.
Auch in dieser Nacht war Pietro aufgewacht, nachdem er Lucrezia geliebt hatte. Noch hatten die Mohren an der Uhrenglocke auf der Piazza San Marco die neunte Stunde nicht zu Ende geschlagen. Er öffnete die Augen und dankte Gott für den Vollmond. Der helle Schein, der durch die Fenster fiel, erfüllte denRaum und erlaubte ihm, die Deckenbalken mit den goldenen Verzierungen und den Fries aus Putten und Blumen am oberen Rand der Wände zu erkennen. Der Anblick dieser vertrauten Dinge linderte seine Qual. Pietro dachte an das Bett, in dem er lag, dasselbe, das er mit seiner Frau geteilt hatte und das, wie alle anderen Möbel auch, vom Palazzo in der Calle della Frescada in die Dogengemächer gebracht worden war. Er selbst hatte sich dieses Zimmer nach Osten ausgesucht, um die Nacht zu verkürzen. Mit dem linken Arm suchte er unwillkürlich nach Lucrezia, aber er traf nur auf das kalte leinene Laken. Ein Schauer durchlief ihn, und sein Herz bebte so schnell wie das Flügelschwirren eines Spatzes.
Er dachte an Andrea, an das Zimmer nebenan, das der Sohn nun schon vor Monaten verlassen hatte, mit nicht mehr als ein paar philosophischen Büchern, juristischen Traktaten und Kleidern im Gepäck. Pietro war versucht, sich dort an den von Andrea benutzten Tisch zu
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