Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Kleider. Er war nicht einmal aufgestanden, als das Rasseln der Riegel Hoffnung in den anderen Häftlingen geweckt hatte, die sich nun Kopf an Kopf vor den Gucklöchern drängten und in den Flur hinausbrüllten. »Avvocato! Hört mich an, Avvocato!«, schrie einer, »Wächter, Totò geht es schlecht!«, ein anderer, und: »Bringt ihr die Ration heute nicht?«
»Gabriele!«, rief Andrea auf der Schwelle zu dessen fensterlosem steinernen Gelass. Als der Junge sich nicht rührte, ging der Wächter zu ihm und stach ihn mehrmals mit der Spitze seines Stocks, wie man es mit einer Schlange macht, die sich unter einem Weinstock zusammengerollt hat. Wie eine Viper fuhr auch Gabrieles Arm auf, und seine Hand ergriff das Stockende. Er blieb sitzen, hob aber den Kopf und starrte den Wächter hasserfüllt an. Obwohl der sich mit Gefangenen auskennen musste, schien er doch gebannt wie eine Maus vor der Schlange.
»Schurke!«, rief der Mann, ein knochiger Typ mit eingefallenem Gesicht und breiten Händen schließlich aus, riss den Stock an sich und erhob ihn gegen Gabriele.
»Haltet ein!« Andrea war schnell bei ihm.
Der Wächter bedachte ihn mit einem wütenden Blick. »Ich weiß, wie man diese Hundesöhne behandelt, Avvocato!«, knurrte er.
»Geh raus, oder ich bringe dich vor Gericht.« Andrea skandierte jedes einzelne Wort, sein Ton war entschlossen genug, um jede Erwiderung im Keim zu ersticken. Der Wächter, dem dieWut aus jeder Pore drang, begnügte sich mit einer Warnung, weil er seinen Arbeitsplatz behalten wollte: »Ich sage das für Euch: Seid auf der Hut vor diesem Hundsfott!« Er wandte sich zum Ausgang. Ein Schritt nach draußen, dann spuckte er auf den Boden. Einen Augenblick lang war Andrea versucht, ihn zurückzurufen. Doch er tat es nicht, weil er Gabriele damit geschadet hätte. Stattdessen nahm er den Schemel und setzte sich vor den Jungen, der den Kopf gesenkt hatte und wieder zum Lumpenbündel geworden war.
»Gestern habe ich mit deiner Mutter gesprochen.«
Gabriele verharrte einige Sekunden lang reglos, dann hob er langsam den Kopf. Seine Augen waren geschwollen und gerötet, zwischen den Augenbrauen klebte geronnenes Blut. Sie haben ihn geschlagen, dachte Andrea.
»Was wollt Ihr?«, knurrte der Junge, der viel älter aussah als vierzehn.
»Ich bin Anwalt, ich möchte dir helfen«, antwortete Andrea lächelnd. Der Junge schwieg und senkte wieder den Kopf. In dem Gestank nach Exkrementen, der in der Zelle schwebte, summten einige Fliegen.
»Brauchst du etwas? Hast du Durst? Geben sie dir deine Ration Zwieback?«, versuchte Andrea, mit ihm in Kontakt zu kommen.
»Ich habe keinen Hunger, ich brauche nichts«, sagte der Junge mit gesenktem Blick.
»Deine Mutter ist überzeugt, dass du unschuldig bist«, fuhr Andrea fort, »aber wenn das so ist, musst du mir helfen.«
Auch dieser Satz schien ihn nicht aus der Reserve zu locken. »Ich habe schon einen Anwalt«, sagte er nur resigniert, ohne die Augen zu heben.
»Na und?«, erwiderte Andrea unbefangen. »Besser zwei als keinen. Meinst du nicht?« Er hatte einen freundlichen, fast amüsierten Ton angeschlagen. Diese Erwiderung und ihr Tonfall zeitigten endlich Wirkung: Gabriele betrachtete ihn mit einemAnflug von Neugier. Andrea begriff, dass er angebissen hatte. Den günstigen Moment nutzend, setzte er ein wenig Druck ein, um Gabriele zum Sprechen zu bringen.
»Hör mal, ich bin ganz ehrlich zu dir. Deine Lage ist ernst. Heute oder morgen wird entschieden, ob man dir einen regulären Prozess macht oder ob dein Fall dem Rat der Zehn übergeben wird.« Der Junge krümmte sich zusammen und schlang die Arme um die Knie. »Es ist wichtig, dass die Ermittlung in den Händen der Signori di Notte al Criminal und bei den Giudici del Proprio bleibt«, erklärte Andrea, doch Gabriele hob den Kopf und unterbrach ihn.
»Was redet Ihr? Was verstehe ich denn von diesen Dingen?« Aus seinen Augen sprühten Funken.
»Ich werde es dir erklären«, sagte Andrea mit dem ruhigen, gewichtigen Ton eines Vaters, der seinem Sohn den rechten Weg aufzeigt. »Wenn man dich vor den Ermittlungsrichter bringt, wirst du einen Prozess nach den normalen Verfahrensregeln bekommen, mit einem Avogador di Comun, mit einem Verteidiger und Zeugen, zu denen auch deine Mutter und deine Verwandten gehören können. Du wirst Gelegenheit haben, deine Version der Ereignisse zu erklären, und über das Urteil wird abgestimmt werden. Wenn die Richter sich nicht einigen, wird der Prozess bei der
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