Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
logischen Bahn weiter und zog ein paar weitere Schlüsse. Da der Auftrag, den Gabriele von dem Fremden erhalten hatte, nämlich Briefe in den Klostergarten zu bringen und dort abzuholen, zwangsläufig lange vorher geplant und organisiert worden war, musste etwas Unerwartetes den reibungslosen Ablauf gestört haben. Tonino war von einem Stilett ins Herz getroffen worden. Vermutlich war jemand anderes, ein Fremder, in der Nacht der Explosion in das Kloster eingedrungen. Das führte Andrea sofort auf die Ereignisse seit jener Nacht: von dem Moment, an dem er die Krypta betreten und mit der Äbtissin gesprochen hatte, bis zu dem, was bei der Trauerfeier für die alte Nonne in San Giacomo auf der Giudecca geschehen war: die verzweifelte Pantomime der Novizin, um ihn am Reden zu hindern, ihre überraschenden Worte, mit Todesangst in den Augen geflüstert. Andrea lief ein Schauder über den Rücken. Was war in jener Nacht in der Celestia geschehen? Was geschah jetzt? In wenigen Stunden würde er es erfahren, wenn er, wie verabredet, mit der Novizin sprach. Er hoffte, damit endlich Klarheit zu bekommen, denn zu viel war geschehen, um es allein dem Zufall zuzuschreiben. In Andreas Geist ballten die dramatischen Ereignisse sich zu einer einzigen Geschichte zusammen, die sich um einen undefinierbaren Punkt zwischen dem Arsenale und dem Kloster der Celestia drehte.
Wie eine Hand, die die Ruderpinne herumschwenkt, ließ diese Überlegung Andreas Blick nach rechts gehen und führte ihn über den Campo della Confraternità hinaus, der an der Längsseite von der Kirche San Francesco beherrscht wurde. Dort hinten, jenseits des Friedhofs, erstreckte sich wie ein umgebrochener, zum Pflügen vorbereiteter Boden das Gebiet der Explosion, wo einst die Sagredo-Häuser, die Kirche und das Kloster derCelestia gestanden hatten. Er wandte sich nach links zur Ecke des Palazzo Gritti. Genau hierhin, unter das in Marmor gemeißelte Wappen der Familie und die Jahreszahl MDXXV, hatten die beiden Fanti Tonino gebracht, damit er identifiziert wurde. Und hier, wo die Helfer die Toten aufgereiht hatten, hatte Sofia ihren Sohn erkannt.
Andrea dachte an den Schmerz der Mutter. Und er dachte an das Versprechen, Gabriele zu retten, das er ihr gegeben hatte. Er musste sehr aufmerksam vorgehen, jedes erdenkliche Element sammeln, das Gabrieles Version Glaubwürdigkeit verleihen und ihn zusammen mit seinem Freund Granzo von der Anschuldigung des Mordes an Tonino befreien konnte. Das hätte Giacomo Zon, sein Kollege als Gefängnisanwalt, sofort tun müssen, aber er hatte es nicht getan. Andrea wollte keinen Fehler machen, er wusste, wie empfindlich Zon war. Vielleicht hatte der Gefängniswärter ihn um diese Zeit schon von Andreas Treffen mit Gabriele informiert, und Andrea konnte sich gut vorstellen, welch einen Reigen von Unterstellungen diese Nachricht auslösen würde.
Er verscheuchte den Gedanken und schritt über den Platz. Vor ihm öffnete sich zwischen der Mauer des Minoritenklosters und der gegenüberliegenden Mauer von Santa Giustina ein beeindruckendes Panorama der Lagune bis zu den Häusern und Kirchtürmen von Murano. Noch zehn Schritte, dann stand er vor dem Eingang des kleinen Kreuzgangs von San Francesco della Vigna, dort, wo die Zisterne und der Brunnen lagen. Vor dem Törchen aus Kernholz standen drei bewaffnete Arsenalotti. Während Andrea sein Beglaubigungsschreiben hervorzog, bedeutete ihm einer der drei, stehen zu bleiben.
»Das Gebiet ist gesperrt, Signore.«
Die Zonta des Rates der Zehn hatte sich dank ihrer ausgezeichneten Beziehungen zu den Franziskanerpatern für zwei Monate und eine Handvoll Dukaten den kleinen Kreuzgang des Klosters übergeben lassen, um ihn in ein Lager zu verwandeln.
»Ich bin Andrea Loredan, Gefängnisanwalt«, sagte er und zeigte den Wachen das Schreiben. »Ich muss mit Luca Foscari sprechen.«
Der Arsenalotto winkte ihn heran, nahm das Beglaubigungsschreiben und überflog es rasch.
»Bitte wartet hier, Ser Loredan.« Er gab Andrea das Schreiben zurück, drehte sich um, öffnete das Tor und verschwand dahinter.
Andrea wartete geduldig, während eine Schirokkobö in die Zweige der einzigen, verkümmerten Pappel auf dem Campo San Francesco fuhr und das Geräusch zischenden Öls erzeugte. Auf dem Kirchplatz waren nur Reste der Explosion gelandet: Steine und Holz, Eisenstangen und Glas, die ihn bis vor wenigen Tagen bedeckt hatten und jetzt nur als vereinzelte Bruchstücke in den Mauerecken zu finden
Weitere Kostenlose Bücher