Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Quarantia Criminal in Berufung gehen. Bei Stimmengleichheit oder nur einer Stimme Mehrheit wirst du nach fünf Abstimmungsgängen für unschuldig erklärt. Das könnte deine Rettung sein, verstehst du?«
Gabriele nickte.
»Gut«, fuhr Andrea fort. »Doch wenn der Prozess dem Rat der Zehn übergeben wird, läuft er nach Inquisitionsritus ab. Weißt du, was das bedeutet?«
Dieses Mal sah der Junge ihn nur benommen an und schüttelte den Kopf.
»Alles ist anders. Die Ermittlung wird geheim sein, ich werde keine Möglichkeit haben, dich zu verteidigen, außer in einemschriftlichen Memorandum. In Erwartung des Urteils wirst du in den Pozzi landen.«
»Sind die etwa schlimmer als diese Jauchegrube?«, fragte Gabriele, um einen erwachsenen Tonfall bemüht.
»Du wirst dich nach der Bragola zurücksehnen, wenn du dort bist«, sagte Andrea ernst und wartete, damit diese Worte sich glühend in die Seele des Jungen fraßen. Er verstärkte abermals den Druck. »Sie werden die Folter einsetzen«, fügte er hinzu, »und vergiss nicht, dass es immer noch um die Explosion des Arsenale geht. Man könnte dich verdächtigen und beschuldigen. Dann droht dir die Todesstrafe.«
Gabrieles Augen wurden feucht, seine Unterlippe begann zu zittern.
»Was wollt Ihr wissen?«, fragte er mit hauchdünner Stimme.
Andrea wartete nur einen Moment, dann antwortete er: »Alles.«
23
Gabrieles Bericht stimmte mit dem überein, was die Mutter des Jungen gesagt hatte, doch kamen zwei wichtige und eng miteinander verbundene Einzelheiten hinzu. Gabriele hatte nämlich bei seiner Beschreibung des geheimnisvollen Menschen, der ihm die zwei Dukaten angeboten hatte, das Wort Pilger immer wieder durch forestier ersetzt, worunter Andrea zunächst einen Venezianer von der Terraferma verstanden hatte. Doch später hatte der Junge ihm erklärt, dass der Alte zwar wie einer vom Festland, aber mit einem besonderen Akzent gesprochen habe. Zunächst habe er wegen gewisser Ausdrücke an jemanden gedacht, der im Norden, vielleicht auf alemannischem Boden gelebt hatte. Dann sei ihm die Idee gekommen, dass er von einer der fernen Inseln der Serenissima stammen könnte, Candia oder Zypern.
Die andere Sonderbarkeit sei, berichtete der Junge, dass es zu der Zeit gar keine Pilgerschiffe auf dem Weg ins Heilige Land gegeben habe. Weil er von morgens bis abends auf den Molen Venedigs war, wusste er, dass es mindestens bis zum nächsten Frühling keine Reisen dorthin geben würde. Nicht nur wegen der Herbststürme, auch wegen der Uskoken-Piraten. So groß war die Sorge der Venezianer, dass die Kosten für die Versicherung von Schiff und Ladung schon seit Anfang August von zwei auf zehn bis zu fünfzehn Prozent ihres Wertes gestiegen waren – untragbar hohe Preise für die Reeder. Das alles habe er dem Alten erklärt, sagte Gabriele, aber er habe den Mann, der seiner Sache so sicher schien, auch nicht verärgern wollen, um den großzügigen Lohn nicht zu verlieren.
Diese Dinge habe er auch schon den Signori di Notte al Criminal und dem Avvocato Zon erzählt, außerdem am gestrigen Abend »zwei Negern«. Andrea war zusammengezuckt, gewiss nicht wegen des respektlosen Ausdrucks, sondern weil das Volk die Patrizier der Zehn in ihren schwarzen Togen als »Neger« bezeichnete. Das bedeutete, dass der Rat der Zehn Interesse an Gabrieles Fall hatte. Die beiden waren zweifellos Inquisitoren gewesen, die Zeugenaussagen für die Ermittlung sammelten, und um den Kirchenraub ging es ihnen gewiss nicht. Genau das hatte Andrea befürchtet. Andererseits schien es unvermeidlich, dass die Zonta, die Kommission der Zehn, die zusammengekommen war, um die Explosion des Arsenale zu untersuchen, diese seltsame Geschichte, die in einem Mord gipfelte und zur gleichen Zeit wenige Schritte von der Explosion entfernt geschehen war, in ihre Untersuchungen einbezog.
In diese Gedanken versunken, ging Andrea über den Campo della Chiesa, an den Absperrungen um den Bereich der Explosion vorbei. An dieser unüberwindlichen Grenze war alle zwanzig Schritt ein mit Hellebarde bewaffneter Arsenalotto postiert. Je länger Andrea nachdachte, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass Gabriele mit dem Tod seines Bruders nichtszu tun hatte. Allein die Brutalität einer solchen Tat, verglichen mit der Banalität des zugrundliegenden Motivs, schien den Beweis zu liefern. Der Diebstahl eines Kelchs, eines Kruzifixes und zweier Kandelaber ließ sich nicht mit einem Brudermord messen. Andrea dachte auf dieser
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