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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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der tropfende Arm wieder zum Vorschein kam, ließen sich Dutzende Kakerlaken von diesem Arm fallen, andere blieben daran hängen. Der Alte achtete nicht auf sie, seine ganze Konzentration galt dem triefenden Gegenstand in seiner Hand. Endlich war er oben, er sah aus wie ein Knäuel aus Algen, ein großer Pinienzapfen, ein Bienenstock voller Honig.
    Äußerst behutsam legte der Alte den Gegenstand auf die Decke und wickelte ihn darin ein. Er wischte sich die Kakerlaken vom Körper, ohne ihnen weh zu tun, und scheuchte sie, wie den Pionier, der ihnen vorausgegangen war, in die dunkle, feuchte Tiefe zurück, aus der sie gekommen waren. Dann setzte er den Stein mit geschickten Bewegungen zurück in das Loch, schob die Scharniere in die Haken des Deckels, setzte den Eimer wieder zusammen und stellte ihn in die Ecke der Zelle, ans Fußende der Pritsche, seinen gewohnten Ort.
    Nun erst zog er die Decke mit ihrem Inhalt an sich und drückte sie in seinen Schoß. Das Zittern schien nachzulassen, es wurde durch das leichte, arhythmische Keuchen abgelöst, das dem Weinen vorausgeht. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Schließlich weinte er.
    An der untersten Stufe der Treppe zu den Pozzi im Obergeschoss war die achte Zelle so niedrig, dass nur eine dunkle Nische übrig blieb. Dorthin gelangte der prüfende Blick der Wächter nicht, und der Alte wusste das. Er trocknete seine Tränen und kauerte sich in diesen Winkel. Das Weinen wurde zum Seufzen, während seine Hände langsam kreisend den Gegenstand mit der Decke abrieben. Als er damit fertig war, hatte seine Form sich verändert. Befreit von den Verkrustungen jahrelanger Vernachlässigung, war er keine unförmige Kugel mehr, sondern entpuppte sich als eine bauchige, runde Vase mit schlankem Hals: eine inghistera . Die Ablagerungen des Schlicks trübten ihre Oberfläche. Vorsichtig rieb der Alte den Bauch der Vase an den rauen Mauersteinen. Ein Reflex blitzte auf, und er lächelte. Er fuhr fort, das Gefäß zu polieren, bis es die Transparenz von Glas annahm. Dann hielt er es mit beiden Händen in das schwache Gegenlicht des Gucklochs. Es enthielt eine feste Masse, die bis zur Hälfte des Halses reichte. Als er die Vase umkippte, schien die dunkle Masse ihre Form zu verändern und sich in viele kleine Gegenstände zu zerteilen. Auch im Halbdunkel sah man, dass die Flasche keinen Verschluss hatte, sondern der Hals selbstam oberen Ende zusammengedrückt, geschmolzen und dadurch versiegelt war. Der Alte kniete nieder und wickelte die Inghistera in seine Decke.
    Wie ein Henker, der sein Beil hebt, hob er die gläserne Flasche in die Luft und schlug sie mit dem Hals gegen den Rand der Pritsche. Ein Schlag genügte. Er legte das Tuch mit der Flasche auf den Boden und öffnete es. Der Hals war in der Mitte abgehauen, und Hunderte dunkler Scheiben lagen verstreut auf dem hellen Stoff. Der Alte ergriff eine, erhob sich mühevoll und ging zur Zellentür. Eine Spanne über dem Türchen, etwa auf Brusthöhe, war das Guckloch in die Lärchenholztäfelung gebohrt. Reglos lauschte der Alte auf die Geräusche aus dem Gang, doch er nahm nur einen leichten Windstoß wahr, fernes Stimmengewirr, den Schrei der Möwen und das Tropfen der Abflussrinnen in den oberen Stockwerken. Also hielt er die kleine Scheibe zwischen Zeigefinger und Daumen vor das Licht, drehte sie und betrachtete die Prägung aus Buchstaben und Figuren. Auf der Vorderseite sah er einen vor dem Apostel Markus knienden Dogen und darunter die Inschrift S M VENET ANDREAS GRITTI. Auf der anderen ein Christusbild mit neun Sternen in einem mandelförmigen Rahmen, umgeben von der Inschrift SIT T XPE DAT Q T REGIS ISTE DUCAT.
    Der Alte rieb die Münze an dem Lärchenholz. Als er sie erneut ins Licht hielt, hatte sie ihre dunkle Patina verloren, und das Gold ihrer Legierung glänzte. Von diesen Dukaten gab es mindestens zweihundert in der Inghistera, außerdem eine Handvoll Lire und Soldi. Ein kleiner Schatz also, ungefähr vier Jahre Lohn eines Wächters der Pozzi.

31
    Antonio Milledonne, Sekretär der Zehn, hatte eine Weile gebraucht, um Gabriele Dardano Veneziano, den Prior von San Giacomo, zu überreden, den Leichnam der Novizin in den Bereich des Klosters bringen zu dürfen. Darum hatte der Leichnam zwei Stunden lang auf dem Stück Erde vor der Gartenmauer gelegen, von den Sbirren bewacht, damit streunende Hunde ihn nicht verstümmelten. Der Kompromiss wurde eine Stunde vor Sonnenuntergang gefunden, doch zuvor hatten die

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