Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
zwei Schlächtern, die im Kühlraum soeben ein Rinderviertel an den Haken gehängt hatten, ohne den Gefangenen eines weiteren Blicks oder Grußes zu würdigen, auf allen Vieren durch die winzige Zellentür hinaus. Die mit Platten aus gehärtetem Eisen verstärkte Eichentür schloss sich wieder. Der Riegel fuhr rasselnd durch den Ring, der Schlüssel drehte sich dreimal. Der Alte lauschte auf das Scharren der Füße, die die Treppe zu den oberen Pozzi hinaufstiegen. Er wartete, bis die Schritte des Arztes und des Aufsehers verklangen, dann löschte er das Öllämpchen. Zurück blieb der schwache Schimmer, der durch das Guckloch fiel, und der Alte begann zu zittern, von seinen Gefühlen übermannt. Mit verkrampften Bewegungen zog er sich an, streifte sich den Kittel über den nackten Oberkörper, stieg in die Hose und knöpfte sie über seiner schmalen Taille zu. Zuletzt die wollenen Strümpfe und Sandalen. Er wusste, dass er wenig Zeit hatte.
Schnell ging er zum Eimer aus Holz, dessen Dauben wie bei Fässern von zwei Eisenringen zusammengehalten wurden, einer am oberen, der andere am unteren Rand. Ein Klappdeckel, ebenfalls aus Holz, milderte die Ausdünstungen. Wurde er aber aufgeklappt, füllte sich die Zelle mit pestilenzialischen Gerüchen. Der Alte verschob den Strohsack und setzte sich auf eine Ecke der Holzpritsche. Er zog den Eimer zu sich heran, klemmte ihn zwischen Füßen und Waden fest und öffnete ihn. Dann riss er den Deckel aus den Scharnieren, die nun lose am Eimer baumelten. Er löste sie aus ihren Haken und ging mit ihnen zu der Decke, die er für seine Gebete benutzte. Dort kniete er nieder, hob einen Zipfel der Decke und schob die Scharniere in den Spalt zwischen den Steinen, in den er auch die Nadel gesenkt hatte. Er drückte die beiden Eisenstücke einen halben Zoll tief in den Spalt hinein, zögerte, drückte wieder fest auf beide Scharniere. Nichts. Er versuchte es erneut mit mehr Kraft. Der Stein bewegte sich. Jetzt konnte er die Eisenteile noch einen halben Zoll tiefer hineindrücken, erst eines, dann das andere. Er drückte weiter. Der Rand des Steins hob sich, und er konnte ihn mit den Fingerspitzen ergreifen. Erst mit der linken, dann mit der rechten Hand. Er zog mit aller Kraft. Dieser Stein war seine Hoffnung, die einzige Möglichkeit der Rettung. Vielleicht. Er zog stärker. Trauerte seiner Jugend nach. Ihm war, als rissen seine Finger ab, als sprängen die Fingernägel davon wie Fischschuppen. Noch ein kräftiger Ruck, und dieser Teil des Zellenbodens, ein Fuß breit und zwei Fuß lang, öffnete sich wie die Falltür auf einem Schiffsdeck. Mit letzter Kraft konnte der Alte den Stein mit einem der Scharniere in der Öffnung festklemmen, dann fiel er erschöpft rücklings auf die Decke.
29
In den engen Canale della Grazia zwischen dem östlichen Ende der Giudecca und der Insel San Giorgio dringen die Südwinde mit ungeminderter Vehemenz ein und nehmen dort an Kraft zu, wie Wasser zwischen den Steinen eines Wildbachs. An diesem frühen Nachmittag hatte der Schirokko, der am Morgen noch abgeflaut schien, im dreisten Komplott mit der Meeresbrise, eine Mauer aus Luft geschaffen und die Lagune zu kurzen, steilen Wellen aufgepeitscht, gegen die Andreas kräftiges Rudern nichts vermochte. Hüpfend und schlingernd wie ein erschöpfter Kreisel lag die Mascaréta in der Mitte des Kanals, nahm mit jeder Welle einen ganzen Eimer Wasser auf und wurde immer schwerer, so dass Andrea schon bezweifelte, ob er zu dem Treffen mit der Novizin kommen würde.
Als er rechts die im Wiederaufbau befindliche Kirche von SanZuàne sah, erkannte er, dass er etwa mit einem Zehntel Knoten Geschwindigkeit vorankam und schnell entscheiden musste: entweder umkehren und über den Rio della Croce fahren oder an der Kirchenmauer anlegen und zu Fuß über die Baustelle, das Hospiz und durch die Gärten bis zum Klosterufer gehen. Zu seiner Rechten, entlang der Mauer der Kirche, schien das Wasser ruhiger, tatsächlich sah er dort Boote und Fischer, die ein paar Schleppnetze einzogen. Sonderbar, dachte Andrea, hier zu fischen. Vielleicht hat der Wind vom Lido sie bis hierhin getrieben.
Nach einem Stoß mit dem linken Ruder richtete die Mascaréta ihren Bug auf die Boote und kam, obgleich bei jeder Welle schlingernd, mit mindestens einem halben Knoten voran. Nach etwa zwanzig Ruderschlägen gelangte Andrea in ruhigere Gewässer, und die Stabilität erhöhte die Geschwindigkeit seines Bootes. Jetzt konnte er besser erkennen,
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