Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
theologische Weisheit von Augustinus und Thomas von Aquin mit dem Alten und Neuen Testament, ärztliche Meinungen und Befunde mit dem Nachlass und den Verfügungen von Marsilio Carrarese, dem Stifter von Kirche und Kloster im Jahre 1338, in Übereinstimmung gebracht werden müssen.
Denn Dardano vertrat die Ansicht, darin unterstützt von dem Arzt Fausto Pavan, der vom nahen Ospedaletto herbeigeeilt war, dass Anna Tagliapietra, so der Name der Novizin, freiwillig den Tod im Wasser gesucht hatte. Mit anderen Worten, sie hatte Selbstmord begangen. Also durfte dieser Leichnam niemals auf geweihten Boden gelangen. Da Kirche und Kloster mithin ausgeschlossen waren, hatte Milledonne darauf bestanden, die Tote wenigstens im Garten des Klosters unterzubringen, solange man auf die Genehmigung zur Bestattung seitens der Provveditori alla sanità wartete. Doch Dardano zufolge war auch dieser fruchtbare Ort als geweiht zu betrachten, zumal er nicht unter die venezianische Gerichtsbarkeit fiel. Die verfahrene Situation hatte sich erst gelöst, als der Bezirksverwalter, ein gewisser Domenico Bosso, Milledonne eine notarielle Urkunde überreicht hatte, aus der hervorging, dass die südliche Ecke des Gartens in Ufernähe der Familie Mocenigo gehörte und den Mönchen lediglich zur Nutzung überlassen worden war. Erst dann und nachdem er das Plazet des Patriarchen Trevisan erhalten hatte, war der Prior schweren Herzens bereit gewesen, den Leichnamauf den geweihten Boden bringen zu lassen, unter der Bedingung jedoch, dass er in ein schwarzes Leichentuch gehüllt, der Boden des Gartens mit Weihwasser besprengt und die Luft mit dem Duft von Weihrauch gereinigt wurde.
Bei Sonnenuntergang lag Anna, zwanzig Jahre alt, umgeben vom Duft der Zitronenblüten auf einer Leiter mit neun Sprossen, die auf vier Kübeln ruhte. Um indiskrete Blicke auf den wehrlosen Körper zu verhindern, hatte der Sekretär Milledonne ihn hinter bestickten Leinenlaken verbergen lassen, die über einem zwischen den Zitronenbäumen gespannten Seil hingen. Die Untersuchung des Leichnams begann mit der Ankunft der beiden Vertreter der Provveditori alla sanità in Begleitung des Rechtsmediziners Gasparo. Schon tauchten die Schatten der Nacht die Bäume, Mauern und Gesichter in ein dunkles Blau, und im Inneren des Runds aus Laken waren vier Laternen entzündet worden, so dass die Schatten der Männer auf den weißen Tüchern tanzten.
Andrea saß abseits am Rand des Zitronenhains auf einem schiefen Hocker, den Rücken an den Palisadenzaun gelehnt, der diesen Teil vom Rest des Gartens trennte. Er wartete darauf, vom Signore di Notte al Criminal angehört zu werden, der zusammen mit dem Bezirksvorsteher und einem Schreiber im Kapitelsaal die ersten Zeugenaussagen zu dem traurigen Fall sammelte. Es waren keine klaren Gedanken, die Andrea durch den Kopf gingen, eher jähe Gefühlsaufwallungen, die seine schwachen Versuche zunichtemachten, sich am Rand dieses Strudels festzuhalten und nicht zu versinken. Denn ein Strudel war sein Leben geworden, seit er, ohne zu überlegen, zur Celestia gelaufen war, um Hilfe zu leisten. Er dachte an die Äbtissin, an die alte Nonne, die kurz nach ihr gestorben war, und an die im Kapitelsaal versammelte Kommission, die nun versuchte, eine Erklärung für diesen Selbstmord zu finden. Vielleicht waren das alles Mosaiksteine eines einzigen Bildes, in dessen Mittelpunkt die Celestia und ihre Ordensschwestern standen. Früheroder später würde man ihn zur Zeugenaussage rufen. Ein seltsames Gefühl: Er, Pflichtverteidiger der Gefangenen, der gewohnt war, selbst zu vernehmen, darzulegen und zu verteidigen, würde verhört und vielleicht sogar verdächtigt werden. Er stand vor einem schwerwiegenden Problem, denn wenn er nicht lügen wollte, musste er von dem für diesen Nachmittag vereinbarten Treffen mit der Novizin berichten. Dann würde jedermann, der über gesunden Menschenverstand verfügte, in dieser Aussage sofort einen Widerspruch entdecken, denn wie konnte man an den Selbstmord einer jungen Frau glauben, die ihn tags zuvor noch um ein Treffen gebeten hatte? Und wenn Andrea die Gründe für dieses Treffen erklärte, würde er andere beunruhigende Dinge erwähnen müssen, die ihn seit Tagen quälten: von jener unglaublichen Abfolge von Todesfällen bis hin zu der möglichen Verbindung zwischen dem Tod von Tonino Ruis und dem, was seinem Bruder Gabriele geschehen war, dem geheimnisvollen Fremden und seinem Auftrag an den Jungen, in die
Weitere Kostenlose Bücher