Die Feuer von Troia
Sonnengottes Apollon zu entdecken. Konnte sie wirklich dem Ruf dieser göttlichen Liebe widerstehen?
»Ich habe geschworen, der Mutter aller Dinge zu dienen«, sagte sie. »DU bist nicht SIE, und DU verehrst SIE nicht, denn ich glaube, DU leugnest SIE.«
Ein fernes Lachen war die Antwort. Es klang wie das Läuten von Glöckchen.
Tochter des Priamos, auch du wirst MIR schließlich dienen. ICH besitze mehr Macht als du und mehr Macht als die anderen Göttinnen eurer Städte. Alle Frauen werden MICH eines Tages verehren, auch du!
Kassandra rief: »Nein!« und fuhr aus dem Schlaf auf. Ihr Gemach war leer; nur der strahlende, runde Mond stand vor dem Fenster und wirkte wie ein Hohn im Vergleich zu der Schönheit, die sie im Traum gesehen hatte.
Die Achaier waren schon sehr eigenartig: Erst beschlossen sie, Hera, die Göttin der Ehe, zu verehren, die jede Frau für einen Seitensprung bestraft, und dann suchten sie sich Aphrodite, eine Göttin der leidenschaftlichen Liebe, die eine Frau dazu verführt, den Eid zu brechen, den sie geschworen hat. Die Achaier schienen die Treulosigkeit ihrer Frauen zu fürchten, gleichzeitig aber auch zu wünschen. Oder suchten sie nur einen Vorwand, ihre Frauen zu verlassen?
Vielleicht war es besser, daß ein Kind nur der Mutter gehörte.
Möglicherweise eigneten sich Männer nicht für die Ehe und auch nicht als Väter. Eine Frau, die ein Kind in ihrem Leib getragen hatte, mußte sich um sein Wohl kümmern; aber den Männern fiel es einfach zu leicht, Kinder zu zeugen. Ein Kind war für die Männer ein Unterpfand, das der Vater zu seinem größtmöglichen Vorteil benutzte . Vielleicht war Phyllidas Los doch das beste. Ein Gott konnte so viele Frauen haben, wie ER wollte, und er mußte die anderen nicht verstoßen, wenn ER eine neue wählte …
Aber die Pflichten im Tempel riefen! Sie hatte zwar geschworen, niemals Aphrodite zu dienen, aber sie hatte gelobt, eine Dienerin des Sonnengottes zu sein. Sie sollte nicht ihren Gedanken nachhängen, sondern schleunigst hinübergehen und mit den anderen Priesterinnen und Priestern die aufgehende Sonne zu grüßen.
Alle waren bereits versammelt - von den ehrwürdigen alten Heilpriestern und Priesterinnen bis zu den jüngsten Novizen. Kassandra nahm beinahe als Letzte ihren Platz ein, und Charis warf ihr einen geduldigen, aber gleichzeitig tadelnden Blick zu.
Der Oberpriester ergriff das Wort: »Im Namen des Sonnengottes bitte ich euch, einen Neuankömmling unter uns willkommen zu heißen. Er hat im Heiligtum von Delos, der Insel des Sonnengottes, gedient. Ich bitte euch, nehmt unseren Bruder Khryse in euren Reihen auf.«
Der Name Khryse, der Goldene, paßt gut zu ihm! dachte Kassandra. Der Mann war ungewöhnlich groß - beinahe so groß wie Hektor, allerdings nicht so muskulös und kräftig. Feine Sommersprossen überzogen das gut geschnittene Gesicht; die Haare wirkten noch blonder, weil er von der Sonne gebräunt war. Er hatte ein strahlendes Lächeln und ebenmäßige weiße Zähne; die Augen leuchteten so blau wie das Meer.
Khryse sprach mit einer kräftigen, volltönenden Stimme, die Kassandra an die Stimme des Gottes erinnerte. Er hat gut daran getan, einem Gott zu dienen, dachte Kassandra, sogar der Sonnengott könnte auf einen solchen Sterblichen eifersüchtig werden.
Charis fragte nach der feierlichen Sonnenanbetung: »Wer hat heute die Aufgabe, die Opfergaben entgegenzunehmen und zu zählen?«
Diese Frage erinnerte Kassandra an ihre Pflichten, und sie erwiderte: »Ich.«
»Dann wirst du unseren neuen Bruder in den Hof führen und ihm zeigen, wie und wo die Opfergaben aufbewahrt werden.« Kassandra schlug scheu die Augen nieder. Sie hatte das Gefühl, Khryse habe ihre kühnen Gedanken gelesen und kam auf sie zu.
»Ich danke für die Aufnahme hier«, sagte Khryse. »Aber vielleicht darf ich dich, Herrin, zuerst um einen Gefallen bitten . .«
»Gewiß darfst du das«, erwiderte Kassandra etwas gereizt, als deutlich wurde, daß Charis keine Antwort geben würde. »Aber ich kann nichts versprechen, ehe ich nicht weiß, was du möchtest.«
Khryse hob den Kopf und sprach zu allen.
»Ich bitte darum, meiner Tochter, die keine Mutter mehr hat, hier im Tempel Obdach zu geben.« Er winkte ein Mädchen herbei, das sich bis jetzt hinter den Büschen am Rand des Hofes verborgen gehalten hatte.
Zuerst glaubte Kassandra, die Kleine sei noch ein kleines Kind. Sie trug eine zerschlissene und viel zu kleine Tunika,
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