Die Feuer von Troia
Apollons aufhob. Zwei Priester kamen leise herein, sprachen kurz mit der Aufseherin und trugen Khryse hinaus. Seine Augen standen offen, aber sein Blick war verschwommen und verständnislos.
Die Priester sprachen miteinander, als sie an Kassandras Bett vorüberkamen, und sie hörte die Worte: »… wirklich besessen… « Aber wer war besessen? Khryse oder sie?
Kassandra erwachte kurz vor Sonnenaufgang. Jeder Muskel und jeder Knochen in ihrem Körper schien mit einem Knüppel geschlagen worden zu sein. Sie blieb bewegungslos liegen und dachte über das Geschehene nach.
Eines stand fest: Khryse hatte - unrechtmäßig - die Maske des Gottes getragen und versucht, sie zu verführen. Was dann geschehen war, wußte sie nicht mehr genau; sie erinnerte sich, daß Chryseis an ihr gezerrt und geschrien hatte; dann erinnerte sie sich an die Stimme Apollons, die den Lärm und das Durcheinander im Raum übertönte, und an die unglückseligen Worte, die sie Khryse entgegengeschleudert hatte.
Ich würde nicht bei dir liegen, selbst wenn du der Gott persönlich wärst … Hatte sie das tatsächlich zu ihrem Gott gesagt? Khryse hatte nichts anderes verdient. Aber bei dem Gedanken, daß Apollon ihre Worte auf sich bezogen haben könnte, verkrampfte sich ihr ganzer Körper vor Qual und Kummer.
Immerhin, jetzt kannte sie die Quelle der dunklen Flut; dieses Wissen reichte über Angst und Bedauern hinaus: Die Göttin erhob Anspruch auf sie! Kassandra hatte sich in der ganzen Aufrichtigkeit der ersten Liebe dem Gott geschenkt, aber jetzt wußte sie mit Gewißheit: Sie war nicht frei gewesen, sich dem Sonnengott zu versprechen.
Die Tür ging auf; Charis kam herein und beugte sich liebevoll über sie.
»Steh auf, Kassandra. Wir sollen uns alle im Heiligtum versammeln, um darüber zu sprechen, was heute nacht hier geschehen ist.«
Charis brachte ihr Wein, Brot und Honig, doch Kassandra konnte nichts essen. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, und sie wußte, wenn sie sich zwang, würde ihr übel werden.
Charis half ihr beim Anziehen und bürstete ihr die Haare. Kassandra flocht sie zu einem Zopf, den sie locker aufsteckte, und folgte der älteren Priesterin zum Heiligtum, wo sich die anderen bereits versammelt hatten.
Der Oberpriester gebot Schweigen und sagte: »Wir müssen die Wahrheit über diesen unglückseligen Vorfall herausfinden. Tochter des Priamos, berichte uns, was geschehen ist.«
»Ich schlief und träumte. Als ich erwachte, befand sich ein Mann in meinem Zimmer. Er trug die Maske des Gottes, aber ich erkannte Khryses Stimme. Er hat mich schon öfter aufgefordert, bei ihm zu liegen. Aber ich habe ihn abgewiesen.« Sie hob den Kopf und blickte Khryse in die Augen. »Frag den wollüstigen Gotteslästerer! Wird er wagen, das zu leugnen?«
Der Oberpriester fragte: »Khryse, was hast du zu sagen?«
Khryse wandte den Blick nicht von Kassandra. Er sagte: »Ich erinnere mich an nichts. lch weiß nur, daß ich im Zimmer dieser Wildkatze erwachte und sie mir das Gesicht zerkratzte.«
»Du hast also nicht vorsätzlich die Maske des Gottes benutzt, um die Jungfrau zu täuschen?«
»Natürlich nicht!« erwiderte Khryse aufgebracht. »Ich rufe Apollon als Zeugen an. Aber ich bezweifle, daß er kommen wird, um mich zu beschuldigen oder zu verteidigen.«
»Er lügt!« rief Phyllida. »Ich kenne die Stimme des Gottes, und ich kann schwören, daß ich zuerst nur Khryses Stimme gehört habe! Kassandra hat sich bei mir schon öfter darüber beklagt, daß er von ihr forderte, was ihr nicht erlaubt ist, einem sterblichen Mann zu schenken. Aber später habe ich ihn mit der Stimme des Sonnengottes sprechen hören … «
»Das haben wir alle gehört«, sagte Charis, »die Frage ist: Wer hat den Gott gelästert? Beide, keiner oder einer?«
»Ich sage, sie hat sich schuldig gemacht, denn sie hat sich Apollon widersetzt«, sagte Khryse, »sie hat den Gott gelästert. Und im Namen des Gottes, dem wir beide dienen…«
»Es steht außer Zweifel, daß sie die Göttin in Apollons Tempel angerufen hat, und das ist verboten«, sagte Charis.
»Ich finde, wir sollten beide aus dem Tempel schicken«, wandte der Oberpriester ein, »denn sie haben Ärgernis erregt.«
»lch verstehe nicht, weshalb ich bestraft werden soll«, verteidigte sich Kassandra, »nur, weil ich mich gegen einen lüsternen Priester gewehrt habe, der eine Frau geschändet hätte, die sich dem Gott geweiht hat, dem er vorgab zu dienen. Und was die Göttin angeht. . …, ich
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