Die Feuer von Troia
mit Frühstück zu versorgen. Aber wenn Hektor an seine Soldaten Öl und Getreide verteilen ließ, galt als unausgesprochene Regel, daß jede Frau, die mit ihrem Mann erschien, ebenfalls eine Ration beanspruchen konnte.
Kassandra sah zu, wie das Öl ausgeteilt wurde, und sagte zu Hektor: »Sie sollen die Flaschen zurückbringen.«
Hektor widersprach.
»Die Flaschen sind nicht viel wert. Weshalb sollen wir so kleinlich sein?«
»Das hat nichts mit Kleinlichkeit zu tun. Die Töpfer kämpfen mit den anderen Männern. Wenn das noch lange so weitergeht, werden sie bald nicht mehr die Zeit haben, um neue zu machen. «
»Ich verstehe, was du meinst.« Hektor gab die entsprechende Anweisung, und niemand beschwerte sich. Die Vorratshäuser waren immer noch voll von Getreide, und zur Zeit herrschte kein Mangel an Nahrung. Die Menschen in der Stadt mußten nicht hungern. Kassandra füllte mit den anderen Frauen aus dem Palast Tag für Tag die kleinen Ölflaschen und teilte die Weinrationen aus. Selbst am Ende des Winters gab es genug Getreide. Aber Hektors Blick wurde allmählich besorgt.
»Wie sollen wir die Frühjahrs’saat ausbringen, wenn sie uns jeden Tag angreifen?« fragte er eines Abends beim Essen im Palast.
»Sie werden doch sicher nicht während der Aussaat kommen«, sagte Andromache. »In meiner Heimat ruhen alle Kriege während der Aussaat und der Ernte, um die Götter zu ehren.«
»Aber die Achaier fürchten die Erdmutter nicht, und vielleicht werden sie unsere Götter nicht ehren. «
»Aber sind nicht alle Unsterblichen eins?« fragte Kassandra.
»Du weißt das. Ich weiß es«, sagte Aeneas, »aber ob die Achaier es wissen, das ist eine ganz andere Sache. Nach dem, was ich gehört habe, würde es mich nicht sehr überraschen, wenn ihnen der Krieg wichtiger wäre als irgendwelche Götter.« Er lächelte sie an und sagte: »Mach dir keine Sorgen, Kassandra. Das ist Männersache.«
»Aber wenn sie kommen«, erwiderte Kassandra, »werden die Frauen mehr leiden als die Männer.«
Aeneas sah sie überrascht an. Dann sagte er: »Das ist wahr. Daran habe ich bisher noch nie gedacht. Einem Krieger droht nichts Schlimmeres als ein ehrenhafter Tod. Aber die Frauen erwartet bei einer Niederlage ihrer Männer Vergewaltigung, Gefangenschaft, Sklaverei…. Es stimmt, Krieg ist nichts für Frauen, sondern etwas für Männer. Ich frage mich, wie eine Frau diesen Krieg führen würde.«
Kassandra sagte sehr bitter: »Einer Frau wäre es bestimmt gelungen, keinen Grund für diesen Krieg zu liefern. Wenn die Achaier dann das Gold und die Schätze Troias hätten haben wollen, wären sie in dem Bewußtsein hierhergekommen, daß sie nicht um der Ehre willen gegen uns kämpfen, sondern aus Habsucht, die den Göttern verhaßt ist.«
»Vergiß nicht, Kassandra, es gibt Männer, die diesen Krieg als ein großes Spiel betrachten - als einen Spielplatz, wo als Preise nur Lorbeerkränze und Ehre winken.«
Kassandra nickte. »Hektor eilt in jede Schlacht, als wolle er einen Bronzekessel und einen weißen Stier mit vergoldeten Hörnern gewinnen. «
»Nein, du hast unrecht, Kassandra«, sagte Aeneas. »Hektor ist nicht leichtfertig oder dumm. Wir müssen nur alle nach dem Gesetz des Gottes leben, den wir gewählt haben. Und Hektor gehört dem Kriegsgott. Aber er ist nicht mein Gott. Krieg ist vielleicht Teil meines Lebens. Aber er wird nie das Leben sein, das ich gewählt habe.« Er berührte leicht ihre Wange und sagte: »Du siehst müde aus, Schwester. Es kann hier nicht so viel zu tun geben, daß du bis zur Erschöpfung arbeitest. Die Königin hat viele Frauen, und jede von ihnen kann diese kleinen Aufgaben übernehmen. Ich glaube, die Götter haben dir etwas Wichtigeres zugedacht. Wir Männer brauchen vielleicht deine besondere Kraft, ehe dieser Krieg zu Ende ist - was für ein Ende die Götter uns auch bestimmt haben.«
Er verließ Kassandra und blieb bei seiner Frau stehen. Kassandra sah, wie er sich vorbeugte und das Gesicht des Kindes mit dem Finger berührte. Er sagte lachend etwas zu Kreusa und ging dann zu den Männern zurück.
Er ist ganz anders als Khryse, dachte Kassandra, die ihm nachsah, als er den Hügel hinunterging. I ch habe schon bei seiner Hochzeit gesagt, wenn mein Vater mir einen solchen Mann ausgesucht hätte, wäre ich glücklich gewesen.
In meinem ganzen Leben - und ich bin beinahe die einzige Frau meines Alters am Hof, die unverheiratet ist, habe ich noch keinen Mann gesehen, den ich
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