Die Feuer von Troia
Kassandra, die das ebenfalls hatte sagen wollen, fragte sich, woher Helena es wußte. Die Spartanerin war nicht dumm. Das verwirrte Kassandra. Sie wollte Helena um alles in der Welt nicht achten oder mögen - und doch konnte sie nicht anders, sie mußte sie gern haben.
Chryseis kam zu ihr und flüsterte: »Charis hat gesagt, wir können in den Tempel zurück. Bist du bereit?«
»Nein, Kleines. Ich bleibe noch eine Weile bei meiner Mutter, meinen Schwestern und den Frauen meiner Brüder, wenn Charis es erlaubt«, erwiderte Kassandra. »lch komme zurück, sobald ich kann.«
Du darfst immer tun, was du willst.« Chryseis’ Stimme klang gehässig. »Ich bin sicher, sie wären dir auch nicht böse, wenn du überhaupt nicht mehr in den Tempel kommen würdest.«
Hekabe hatte zugehört; aber sie war eine zu gutmütige Frau, um die Bosheit in der Stimme des Mädchens zu hören. Sie sagte: »Ja, das war sehr freundlich von ihnen, dich wieder einmal zu uns kommen zu lassen. Bitte sage Charis, wie dankbar ich ihr dafür bin. Da man alle diese Leute in den Palast geschickt hat, sollte ich mich vermutlich darum kümmern, daß sie etwas zum Frühstück bekommen. Vielleicht kannst du mir dabei helfen, Kassandra, wenn es deine Pflichten erlauben.«
»Natürlich, Mutter«, sagte Kassandra, und Helena erklärte: »Ich werde dir auch helfen.«
Kassandra sah erstaunt, daß ihre Mutter Helena liebevoll die Wange tätschelte. »Ich werde mit Charis sprechen«, sagte sie und ging schnell davon.
»Natürlich mußt du bleiben, wenn deine Mutter dich braucht«, sagte Charis, »denn Kreusa ist hochschwanger, und Andromache stillt noch. Mach dir keine Sorgen, Kassandra, bleibe, solange deine Mutter dich braucht.«
»Was ist das?« rief Andromache plötzlich zitternd und legte schützend ihr Schultertuch über ihr Kind, denn jemand schlug gegen die Tür. Auch andere Frauen schrien furchtsam auf.
»Seid nicht albern«, sagte Helena und sah sie mißbilligend an, »wir haben gesehen, wie die Achaier abgefahren sind.« Sie ging selbst zur Tür und öffnete sie. Sie strahlte und wurde dadurch noch schöner. Kassandra wußte, wer vor der Tür stand, noch ehe sie ihren Zwillingsbruder gesehen hatte.
»Paris!«
»lch wollte mich vergewissern, daß mit dir und dem Jungen alles in Ordnung ist«, sagte Paris und blickte sich suchend nach dem Jungen um, »du hast den Kleinen doch nicht unten und ohne ihn hier Schutz gesucht?«
»Natürlich nicht. Er liegt da drüben in Aithras Armen und schläft«, antwortete Helena, und Paris lächelte. Kassandra dachte: Paris sollte Helena nur in ihrem Gemach so anlächeln und nicht unter den Augen so vieler Menschen.
»Hast du dich gefürchtet, Liebling?«
»Nein, denn wir wußten, daß wir gut beschützt waren, Liebster«, erwiderte sie leise, und er griff nach ihrer Hand.
»Ich habe Hektor aufgefordert, mich hierher zu begleiten, damit wir uns überzeugen, daß unsere Frauen und Kinder in Sicherheit sind«, fügte Paris hinzu, »aber er war zu sehr damit beschäftigt, sich um seine Soldaten zu kümmern.«
Andromache sagte spitz: »Hektor würde die Pflichten gegenüber seinen Männern nie vernachlässigen, und ich würde das auch nicht wollen.«
Was hat Paris überhaupt hier bei den Frauen zu suchen? Kassandra wußte, daß Hektor sich richtig verhielt. Aber sie wußte auch, daß jede Frau in Troia Helena in diesem Augenblick um ihren Mann beneidete.
»War Menelaos bei dem Überfall dabei?« fragte sie ihn leise.
»Wenn er hier war, habe ich ihn nicht gesehen. Ich habe schon immer gesagt, er ist zu feige, um selbst zu kommen. Und jetzt sind wir auch Agamemnon los.«
»Glaub das nicht«, erwiderte Kassandra heftig, »er kommt zurück! Er wird sich kaum Zeit lassen, seine Männer zu sammeln, ehe er wieder hier ist. Und dann wirst du ihn nicht so schnell wieder los.«
Paris betrachtete sie mit gutmütiger Nachsicht.
»Prophezeist du immer noch das große Verhängnis? Du bist wie ein Spielmann, der nur ein Lied kennt, das er immer wieder singt und sich damit das Willkommen in jedem Haus verscherzt«, sagte er, »aber es tut mir leid, daß dir diese achaiischen Geier Angst eingejagt haben. Hoffen wir, daß damit das Schlimmste vorbei ist.«
Das hoffe ich auch. Er weiß nicht, wie sehr ich das hoffe.
6
Es war nur der erste Überfall. Kassandra kam es vor, als seien in diesem Winter jedesmal, wenn sie zum Hafen blickte, achaische Schiffe dort. Die Eindringlinge lieferten sich mit den Troianern
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