Die Feuer von Troia
trösten. »Möchtest du Brot und Wein, Herrin?«
»Nein, in einer solchen Stunde kann ich nicht an Essen denken«, erwiderte Meliantha. »Kleide mich in mein Festgewand und schminke mir das Gesicht. Dann trägst du mich hinaus in den Hof in die Sonne, damit ich noch einmal das Antlitz des Sonnengottes sehe, dem ich mein ganzes Leben gedient habe.«
Kassandra tat wie ihr befohlen und half der alten Frau in das Festgewand der Priesterinnen aus gefaltetem, mit Safran leuchtendgelb gefärbtem Leinen. Sie fand einen Schminktopf, und da Meliantha es wünschte, schminkte sie Wangen und Lippen leuchtendrot, auch wenn sie fand, daß es grotesk wirkte. Schließlich nahm sie die alte Priesterin auf die Arme, trug sie hinaus in den strahlenden Sonnenschein und bettete sie im Hof auf ein paar Kissen. Die alte Frau lehnte sich ermattet zurück, und Kassandra sah das Blut in der blauen Ader an der Schläfe heftig pochen. Meliantha atmete schwer und röchelte matt.
»Soll ich nicht lieber eine Heilpriesterin rufen, Herrin?«
»Nein, dazu ist es zu spät«, flüsterte Meliantha. »Ich bin froh, daß ich nicht die Tage erleben muß, die Troia bevorstehen. Aber du warst gut zu meinem kleinen Volk, und mit meinem letzten Atemzug werde ich darum beten, daß du dem Schicksal entgehst, das dieser unglückseligen Stadt bestimmt ist.« Sie schloß die Augen, und Kassandra beugte sich zu ihr hinunter, um zu hören, ob sie noch atmete. Meliantha streckte ihre zitternde Hand aus.
»Komm näher, mein Kind, ich kann dein Gesicht nicht sehen«, flüsterte sie. »Und doch leuchtet es wie ein Stern. Der Sonnengott hat dich nicht verstoßen.« Sie küßte Kassandra mit ihren faltigen Lippen, dann öffnete sie die trüben alten Augen und rief: »Apollon, Sonnengott! Zeige mir DEIN strahlendes Gesicht!«
Sie zitterte heftig am ganzen Leib und sank leblos auf die Kissen zurück.
Jetzt konnte es ihr nicht mehr schaden, wenn Kassandra sie allein ließ, und so lief sie zu Charis, um ihr zu berichten, was geschehen war.
»Sie war die Älteste von uns allen«, sagte Charis. »Ich bin mit neun Jahren in den Tempel gekommen, und schon damals war sie alt. Ich habe den Erderschütterer heute nacht gespürt, und ich hätte zu ihr gehen sollen. Aber so ist es gut. Ich hatte ihr nicht helfen können. Wir müssen sie begraben, wie es sich für eine Priesterin des Apollon geziemt.« Sie schickte die Frauen hinaus, um Blumen für Girlanden zu holen und Honigkuchen und Wein zu bringen.
»Wir trauern nicht, wenn eine der unseren in die Ewigkeit geht«, ermahnte sie die schluchzenden Frauen. »Wir freuen uns, denn der Gott hat sie nach einem langen Leben in SEINEM Dienst zu sich genommen. Seht ihr -«, sie deutete auf die toten Schlangen in ihren Töpfen, »ihre kleinen Freunde sind ihr vorausgeeilt, um sie dort zu begrüßen. Dort wird Meliantha sie wiedersehen und mit ihnen spielen, wie sie es immer so gern getan hat.«
Zwei Tage später hörte Kassandra, wie in der Stadt Alarm gegeben wurde: Die Achaier griffen wieder einmal an. Sie sah, wie die Männer, unter ihnen ihr Bruder Paris, den Eindringlingen entgegenliefen. Überrascht stellte sie fest, wie alltäglich das alles zu werden schien - nicht nur für sie, sondern auch für die Troianer. Außer den Kriegern schien niemand mehr den Überfällen große Aufmerksamkeit zu schenken. Auch am Alltag des Tempels änderte sich dadurch nichts, und von ihrem Aussichtspunkt sah sie, wie die Frauen mit den Wasserkrügen ohne Hast zu den Brunnen gingen. Die Troianer, dachte sie, beachten die Achaier allmählich nicht mehr als einen plötzlichen Hagelschauer. Sehen sie denn nicht, daß das alles zu unserem Untergang führt? Aber vermutlich kann niemand jahrelang in Angst und Schrecken leben. Zweifellos wäre ich ohne meine Visionen, die mich immer wieder beunruhigen, genauso gelassen.
Wenig später kam ein Bote aus der Stadt zu ihr. Er sagte, die Wehen der Herrin Helena hätten eingesetzt, und sie bitte darum, daß die Herrin Kassandra zu ihr komme. Nach Melianthas Tod hatte Kassandra im Tempel nur noch wenige oder überhaupt keine Pflichten mehr. Deshalb machte sie sich nicht die Mühe, um Erlaubnis zu fragen, sondern ging sofort zum Palast hinunter. Außer Andromache fand sie ihre Mutter und alle ihre Schwestern in Helenas Gemach versammelt.
Kassandra erkundigte sich nach Andromache und erfuhr, daß sie die kleinen Kinder zu sich genommen hatte, um ihnen Geschichten zu erzählen und sie mit Süßigkeiten zu
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