Die Feuer von Troia
dann über die Arme. Sie wusch das Kind, gab ihm etwas zu essen und eilte in den Tempelhof. Sie nahm sich vor, in den Tempel der jungfräulichen Göttin zu gehen, um ihre Freundinnen unter den Priesterinnen dort zu begrüßen und IHR vielleicht mit einem Opfer für die glückliche Rückkehr nach Troia zu danken. Unter den versammelten Priestern entdeckte sie Khryse.
Er sah noch schlechter aus als am Abend zuvor. Das geschwollene Gesicht und die roten Augen deuteten darauf hin, daß er nicht geschlafen hatte. Der arme Mann, dachte sie, ich sollte ihn in seinem Elend nicht quälen oder erwarten, daß er Vernunft annimmt. Vielleicht versteht er nicht, warum er so leidet. Aber wann hätte das je verhindert, daß ein Mensch leidet?
Charis sprach mit ihm. Kassandra sah, wie Charis erst auf eine, dann auf eine andere, dann auf noch eine dritte Priesterin wies und hörte, wie sie sagte: »Du und du und du - nein, du nicht. Dich brauchen wir hier.« Charis winkte Kassandra zu sich.
»Wie Khryse sagt, hast du gestern seine Tochter im Lager der Achaier gesehen. Bist du sicher, daß es wirklich Chryseis war? Es ist schon einige Jahre her, und sie war noch ein Mädchen, als sie … uns verließ. «
»Als man sie uns grausam geraubt hat!« verbesserte Khryse sie heftig.
Kassandra bestätigte: »Ja, ich bin sicher. Selbst wenn ich sie nicht erkannt hätte, sie hat mich erkannt und mich davor gewarnt, Agamemnon zu erzürnen.«
»Hast du das ihrem Vater gesagt?«
»Ja, aber es machte ihn nur wütend«, erwiderte Kassandra, »er hat mich sogar beschuldigt, ich hätte die Geschichte nur erfunden, um ihn zu quälen.«
Khryse sagte trotzig: »Du weißt, sie hatte schon immer etwas gegen mich.«
»Wenn ich eine Geschichte erfinden wollte, um Khryse zu ärgern, würde ich mir etwas Besseres einfallen lassen«, erklärte Kassandra, »glaub mir, es war genau so, wie ich gesagt habe.«
»Dann gehst du am besten mit ihnen in das Lager der Achaier«, meinte Charis, »Khryse ist entschlossen, hinunterzugehen und im Namen Apollons zu verlangen, daß die Achaier seine Tochter zurückgeben. Sie haben auch Priester des Apollon und achten SEINEN Schutz.«
Da Kassandra genau das vorgeschlagen hatte, überraschte sie das Vorhaben nicht - höchstens, daß Khryse es nicht schon langst getan hatte. Aber vermutlich hatte er bisher auf alle anderen Mittel gesetzt - welche ihm auch immer zur Verfügung stehen mochten. Schließlich verließen etwa drei Dutzend Priester und Priesterinnen in den zeremoniellen Gewändern und dem Kopfputz des Sonnengottes den Tempel und zogen durch die langen, steilen Straßen zum großen Stadttor. Die Wache wollte das Tor nicht öffnen. Aber als Khryse erklärte, er beabsichtige, mit Agamemnon im Namen Apollons über die Rückkehr einer Gefangenen zu verhandeln, schickte man einen Herold hinaus, um das Treffen vorzubereiten.
Endlich ließ man sie durch, und sie standen beinahe eine Stunde in der heißen Sonne, ehe ein großer starker Mann mit dichten schwarzen, gelockten Haaren und einem kunstvoll gelockten Bart mit großen, entschlossenen Schritten auf sie zukam..
Kassandra war Agamemnon schon einmal so nahe gewesen, und wieder erfaßten sie Entsetzen und Abscheu. Sie senkte den Kopf und starrte in der Hoffnung vor sich auf den Boden, er werde sie nicht bemerken.
So war es. Agamemnon stellte sich angriffslustig vor Khryse und fragte: »Was willst du? Ich bin kein Priester des Apollon. Wenn du einen Waffenstillstand für ein Fest oder etwas Ähnliches haben möchtest, dann mußt du dich an meine Priester wenden und nicht an mich.«
Khryse trat einen Schritt vor. Er überragte Agamemnon. Trotz der ergrauten Haare wirkte er mit seinen markanten Gesichtszügen hoheitsvoll. Seine tiefe, kräftige Stimme klang gebieterisch: »Wenn du Agamemnon von Mykenai bist, muß ich mich sehr wohl an dich wenden. Ich bin Khryse, Priester des Apollon, und du hältst meine Tochter als Gefangene in deinem Lager fest. Sie wurde vor drei Jahren bei der Frühjahrs’aussaat geraubt.«
»Ja?« fragte Agamemnon. »Und bei welchem meiner Männer ist diese Frau?«
»König Agamemnon, sie heißt Chryseis, und ich glaube, sie ist bei dir. In Apollons Namen erkläre ich mich bereit, ein angemessenes Lösegeld zu zahlen, wie es üblich ist. Wenn du sie nicht gegen ein Lösegeld freilassen willst, fordere ich, daß du mir den Brautpreis bezahlst und daß sie in aller Form verheiratet wird.«
»Ach wirklich?« spottete Agamemnon. »Ich
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