Die Feuer von Troia
daß sich plötzlich eine schreckliche Stille ausbreitete. Es war ihr, als habe sie das alles schon einmal gesehen. Alles schien weit weg, durch eine dicke durchsichtige Mauer oder ein Meer von ihr entrückt zu sein. Das wogende Wasser trennte sie von allem, was sie sah und hörte. Apollons Fluch! Es ist geschehen, o Sonnengott!
Gilt DEIN Fluch nur den Achaiern?
Aber auch wenn nur die Achaier verflucht sind, werden wir darunter leiden. Wir sind ihnen ausgeliefert. Ich frage mich, ob Priamos das begreift. Ich bin sicher, wenn er das nicht einsieht, dann Hektor.
Langsam wurde sie sich wieder ihrer Umgebung bewußt: das grelle Mittagslicht, die Sonnenstrahlen, die sich auf den Mauern brachen, und unten in der Ebene das Hohngelächter der Achaier. Sie schienen das alles für einen Mummenschanz und leere Gesten zu halten. Es kam ihnen nicht in den Sinn, Apollon, der Gott, könne sie verflucht haben.
Oder habe ich das alles nur geträumt?
Ob Traum oder Wirklichkeit, es gab Dinge, die getan werden mußten. Kassandra ging hinunter in den Tempel, und man beauftragte sie, die Opfergaben entgegenzunehmen und aufzulisten. Nachdem sie eine Stunde Flaschen mit Öl und Weizenbrote gezählt hatte, kam es ihr vor, als sei sie nie weg gewesen.
Kassandra arbeitete bis Sonnenuntergang. Dann versorgte sie die Schlangen. Sie ging zu Charis, der ranghöchsten Priesterin, und erklärte ihr, sie allein könne so viele Schlangen nicht pflegen, wenn sie außerdem noch andere Pflichten habe. Sie bat, Charis möge ihr jemanden zuteilen, der ihr helfen und das Schlangenwissen lernen könne. Charis fragte, ob sie Phyllida für diese Aufgabe geeignet halte.
»Ja, sie war immer meine Freundin«, erwiderte Kassandra. Charis ließ Phyllida holen und fragte sie, ob sie einverstanden sei.
»Ich werde dich alles lehren, was ich in Kolchis gelernt habe«, versprach Kassandra, und Phyllida freute sich sichtlich.
»Ja, und wenn wir zusammen arbeiten, können unsere Kinder als Bruder und Schwester aufwachsen«, sagte Phyllida. »lch habe deine Kleine gestern gewaschen und ihr etwas zu essen gegeben. Sie ist sehr aufgeweckt und gescheit, und später wird sie auch einmal hübsch sein.«
Kassandra dachte, Phyllida wolle ihr schmeicheln, aber sie hörte es nicht ungern. Nachdem alles geregelt war, gingen die beiden Frauen wieder hinaus, um auf das achaische Lager hinunterzublicken. Das grelle Licht und die Hitze des Tages waren vorüber, und es wehte ein leichter Wind. Staub wirbelte durch das Lager, und viele Menschen, darunter einige in den weißen Gewändern der Apollonpriester, liefen durch die Straßen.
»Also nehmen sie den Fluch doch nicht auf die leichte Schulter«, sagte Phyllida. Sie war nicht mit bei den Achaiern gewesen, aber sie hatte gehört, was vorgefallen war, und Kassandra stellte fest, daß die Ereignisse beim Weitererzählen nichts von ihrer Wirkung verloren hatten.
»Sieh dir das an. Sie führen die Reinigungsrituale im Lager durch und wollen den Sonnengott gnädig stimmen.«
»Sie tun gut daran, denn sie haben SEINEN Fluch heraufbeschworen«, sagte Kassandra.
»Ich glaube, das waren nicht die Soldaten«, meinte Phyllida, »das war nur Agamemnon. Und wir wissen schon lange, daß er ein gottloser Mensch ist.«
»Siehst du, was sie jetzt tun?« fragte Kassandra.
»Sie entzünden große Feuer, um das Lager zu reinigen«, erwiderte Phyllida. Sie fuhren plötzlich zusammen, als sich lautes Klagegeschrei im Lager erhob; man zog dort unten offenbar eine Leiche aus einem Zelt und warf sie in die Flammen.
Über die Entfernung hinweg verstanden sie nicht, was die Achaier in ihrer Verzweiflung riefen; aber diese Art Schreie kannten sie. Phyllida flüsterte: »In ihrem Lager ist die Pest ausgebrochen.«
Kassandra erschrak. »Das ist also Apollons Fluch!«
Zehn Tage lang beobachteten sie, wie die Pestopfer verbrannt wurden. Vom dritten Tag an brachte man sie aus Furcht vor der Ansteckung bis zum Strand und verbrannte sie dort. Kassandra hatte den Schmutz und die Unordnung im Lager gesehen, und deshalb überraschte sie der Ausbruch der Pest nicht, obwohl sie den Fluch des Sonnengottes nicht vergaß und wußte, daß die Achaier jetzt daran glaubten. Bei Sonnenaufgang, um die Mittagszeit und bei Sonnenuntergang schritt Khryse mit Apollons Maske und SEINEM Bogen über die Ringmauern, und wenn er erschien, erhoben sich im Lager der Achaier Verzweiflungsschreie und Rufe um Gnade.
Priamos ließ verkünden, jeder troianische Soldat
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