Die Feuer von Troia
Sie ist ihm gleichgültig. Er ist zufrieden damit, daß sie einen dieser Räuber heiraten wird, die sie weggeschleppt haben.
Dieser Gedanke in Verbindung mit der Angst und der Schande der Vision - wenn es eine Vision gewesen war -, erfüllte sie mit plötzlicher Furcht.
Vater will es mir nicht sagen. Gut, dann werde ich eben Apollon, den Gott fragen .
ER weiß sogar noch mehr als Vater. Und ER hat mir gesagt, ich soll ihm gehören. Und wenn ein Mann mich wie Hesione wegschleppen wollte, würde ER es nicht zulassen. Vater ist damit einverstanden, daß man sie verheiratet. Hätte dieser Mann mich entführt, würde er eine solche Ehe wahrscheinlich auch zulassen.
Ihre Vision von dem Mann mit dem Falkengesicht würde Kassandra nie vergessen. Aber sie wollte nicht daran denken, schloß die Augen und versuchte, sich wieder die goldene Stimme des Sonnengottes in Erinnerung zu rufen und seine Worte:
Du gehörst MIR .
5
Kassandra hatte immer noch gelbe und grüne Flecken, als der Mond inzwischen morgens als blasse schmale Sichel am Himmel hing. Sie stand neben ihrer Mutter, die ein paar Gewänder, Kassandras neue Sandalen und einen neuen, gut gefütterten Umhang in einen Lederbeutel packte.
»Es ist doch noch nicht Winter«, protestierte Kassandra.
»In der Ebene ist es kälter«, sagte Hekabe, »glaub mir, du wirst ihn beim Reiten brauchen, mein Liebling.«
Kassandra lehnte sich an ihre Mutter und sagte beinahe unter Tränen: »Ich will nicht weg von dir.«
»Du wirst mir auch fehlen. Aber ich glaube, du wirst glücklich sein«, sagte Hekabe, »ich würde gern mitkommen.«
»Warum kommst du nicht mit, Mutter?«
»Dein Vater braucht mich.«
»Nein«, widersprach Kassandra, »er hat seine anderen Frauen. Er wird auch ohne dich zurechtkommen. «
»Ganz bestimmt«, sagte Hekabe und verzog dabei leicht das Gesicht, »aber ich möchte ihn nicht den anderen Frauen überlassen. Sie achten wenig auf seine Gesundheit und auf seine Ehre wie ich. Außerdem ist da noch dein kleiner Bruder, und er braucht mich.« Warum braucht er dich? dachte Kassandra, denn am Beginn des neuen Jahres hatte man Troilos zu den Männern geschickt. Aber wenn ihre Mutter nicht gehen wollte, konnte sie nichts dagegen tun. Kassandra hoffte, sie würde keine Kinder bekommen, wenn Kinder bedeuteten, daß man nie mehr tun das konnte, was man eigentlich wollte.
Hekabe hob den Kopf, denn sie hatte im Hof Geräusche gehört. »Ich glaube, sie kommen«, sagte sie und nahm Kassandra bei der Hand. Zusammen eilten sie die große Treppe nach unten.
Viele Leute aus dem Haushalt hatten sich versammelt und starrten die Frauen an, die auf einem Rappen, einem Schimmel und einem Braunen geradewegs in den Hof geritten waren. Die Anführerin, eine große Frau mit einem hellen, sommersprossigen Gesicht sprang vom Pferd, lief zu Hekabe und umarmte sie.
»Schwester! Wie schön dich zu sehen«, rief sie. Hekabe drückte sie fest an sich, und Kassandra staunte, daß ihre sonst so gelassene Mutter gleichzeitig weinte und lachte. Die große Fremde ließ sie los und sagte: »Das Leben im Haus hat dich dick und weich gemacht. Deine Haut ist blaß und weiß. Du könntest dein eigener Geist sein!«
»Ist es so schlimm?« fragte Hekabe.
Die Frau sah sie mißbilligend an und fragte: »Und das sind deine Töchter? Sind es auch Hausmäuse?«
»Das mußt du selbst entscheiden«, erwiderte Hekabe und winkte den Mädchen näherzutreten. »Das ist Polyxena. Sie ist schon sechzehn. «
»Sie wirkt zu zart für ein Leben im Freien, wie wir es führen, Hekabe. Ich glaube, du hast sie zu lange im Haus gehalten. Aber wir werden tun, was wir können, und sie dir gesund und stark zurückbringen.« Polyxena verkroch sich hinter ihrer Mutter, und die große Amazone lachte.
»Nein?«
»Nein. Du sollst Kassandra, die Kleine, haben«, sagte Hekabe.
»Die Kleine? Wie alt ist sie?«
»Zwölf«, erwiderte Hekabe, »Kassandra, mein Kind, komm und begrüße deine Tante Penthesilea, unsere Stammeskönigin. « Kassandra betrachtete die ältere Frau aufmerksam. Sie war einige Fingerbreit größer als Hekabe, die eine große Frau war. Sie trug eine spitze Ledermütze, unter der Kassandra aufgesteckte helle rötliche Zöpfe sah, und eine kurzen, eng anliegenden Waffenrock. Ihre langen, sehnigen Beine steckten in einer ledernen Hose, die bis über die Knie ging. Sie hatte ein mageres, faltiges Gesicht. Ihre Haut war nicht nur von der Sonne verbrannt, sondern überzogen von tausend
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