Die Feuer von Troia
schluckte, und Tränen rannen ihr über die Wangen. Helena trat zu ihr und trocknete ihr mit dem Schleier das Gesicht. Diese zärtliche Geste entwaffnete Kassandra. Sie starrte die Frau ihres Bruders an und flüsterte: »ER wird dich vernichten …«
»Mein armes Kind«, sagte Hekabe. »Die Götter quälen dich immer noch mit diesen Visionen. Laß sie, Helena, man kann ihr nicht helfen. Kassandra, geh in den Tempel zurück. Ich bin sicher, die Priester haben Heilmittel für solche Anfälle.«
Priamos verlangte energisch: »Ich wünsche keine Prophezeiungen mehr, Kassandra. Ich habe gesprochen, und so soll es geschehen.« Kassandra konnte das Schluchzen nicht unterdrücken. Sie sprang auf, lief aus der Halle und rannte durch die Straßen. Nach einiger Zeit hörte sie Schritte, die ihr folgten. Sie lief noch schneller, aber die Schritte wurden ebenfalls schneller. Dann griffen sanfte Hände nach ihr und zwangen sie stehenzubleiben.
»Was hast du, Kassandra?« fragte eine Männerstimme. Panik erfaßte sie, und sie wehrte sich heftig, um sich aus dem Griff zu befreien. Dann erkannte sie Aeneas, beruhigte sich und stand schweigend vor ihm. »Kannst du es mir nicht sagen?« fragte er. »Was ist wirklich los?«
»Du weißt, daß die anderen sagen, ich bin verrückt«, erwiderte sie wie betäubt.
»Das glaube ich nicht. Vielleicht quält dich ein Gott, aber verrückt bist du nicht.«
»Wo liegt da der Unterschied?« Sie seufzte. »Und ich kann nicht schweigen. Wenn die Sicht über mich kommt, muß ich sprechen …« Sie hörte, daß ihre Stimme so zitterte, daß die Worte beinahe unverständlich klangen.
Aeneas legte ihr liebevoll den Arm um die Schulter. »Vielleicht hält jeder, der nicht weiter sieht als bis zum Frühstück am nächsten Morgen, den für verrückt, der in die Zukunft sehen kann. Als du aus der Halle gelaufen bist, hatte ich Angst um dich. Ich hatte Angst, du könntest stürzen und dich verletzen. Ich glaube wirklich nicht, daß du den Verstand verloren hast. In meinen Augen bist du völlig vernünftig. Ich verstehe auch nicht, warum man es für Wahnsinn halten sollte, unser Volk davor zu warnen, daß die Götter unseren Untergang wollen. Seit ich in Troia bin, habe ich den Eindruck, über uns liegt der zürnende Schatten eines oder vielleicht auch mehrerer Unsterblicher. Jeder Windstoß scheint die Gefahr der Zerstörung anzukündigen.«
Er küßte sie sanft auf die Wange. »Kannst du mir sagen, was du siehst?«
Sie blickte ihm in die Augen, und eine plötzliche Gewißheit erfüllte sie. »Ich habe gesehen, daß du die Gefahr überleben wirst. Ich habe gesehen, daß du Troia lebend und unversehrt verläßt.«
Er streichelte ihr sanft die Schulter. »Das ist natürlich gut zu wissen. Aber deshalb habe ich die Frage nicht gestellt. Komm, ich bringe dich zum Tempel.« Sie gingen schweigend weiter. Dann fragte er: »Glaubst du wirklich, daß in diesem Krieg für Troia keine Hoffnung besteht?«
»Ich wußte es, als Paris Helena hierhergebracht hat«, antwortete sie, »und glaub mir, ich sage das nicht aus Bosheit. Ich liebe Helena inzwischen aufrichtig, als sei sie meine Schwester. Ich wußte es schon, als Paris als junger, unbekannter Mann zu den Wettkämpfen nach Troia kam. Hektor hatte recht, als er ihn wegschicken wollte - wenn auch aus den falschen Gründen. Hektor fürchtete, Paris beanspruche den Thron, aber diese Gefahr bestand nie …«
Aeneas strich ihr über die Wange und sagte: »Ich besitze deine Sicht nicht, Kassandra. Aber ich vertraue dir. Du sprichst die Wahrheit. Du magst dich irren, aber deine Worte haben nichts mit Bosheit oder Wahnsinn zu tun. Und wenn du diese Dinge siehst, mußt du natürlich sagen, was du nach dem Willen der Götter sagen sollst.«
Sie erreichten das Tempeltor. Er umarmte sie und sagte: »Wenn du uns warnst, werde ich immer auf dich hören, das verspreche ich dir.«
»Ich glaube«, sagte Kassandra, »ein Unsterblicher hat diesen Krieg begonnen. Aber ich glaube auch, Aphrodite hatte die Gelegenheit, uns zu helfen oder uns zu vernichten. Und jetzt scheint uns, daß nicht SIE, sondern der Streit anderer Götter uns bedroht. Als Vater sagte, kein Sterblicher könne die Mauern Troias schleifen, wußte ich, das ist die Wahrheit. Wir werden nicht durch die Hand der Achaier fallen, sondern durch die Hand der Götter. Aber ich weiß nicht, weshalb SIE unsere Stadt zerstören wollen.«
»Vielleicht«, sagte Aeneas, »brauchen die Götter keinen Grund für das,
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