Die Feuer von Troia
Ich gehe, wie die Götter es wollen, und warne das Volk!«
Die heftigen Worte führten dazu, daß er sie losließ, und ehe er sie daran hindern konnte, rannte sie durch das Tor. Auf der Straße schrie sie aus Leibeskräften: »Hütet euch! Die Schlangen Apollons warnen uns! Die Erde wird beben! Jeder schütze sich, so gut er kann! Niemand schlafe unter einem Dach, denn es könnte einstürzen!«
Von Kassandras Schreien aufgeschreckt, rannten die Leute aus den Häusern. Von einem wilden Drang erfaßt, lief Kassandra weiter und wiederholte ihre Warnung immer und immer wieder. Sie hörte, wie die Leute hinter ihr verstört Fragen stellten und sich angstvoll berieten. Einige sagten: »Hört auf die Warnung der Apollonpriesterin«, während andere schimpften: »Der Gott hat sie verflucht. Weshalb sollten wir ihr glauben?«
In Kassandra schien ein Feuer zu lodern. Die Glut der Warnung, die in ihr brannte, trieb sie voran. Sie rannte durch die Straßen und hörte nicht auf, ihre Warnung hinauszuschreien. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie im Vorhof des Palastes stand. Ihre Kehle schmerzte; viele Leute aus dem Palast umringten sie und starrten sie an. Heiser wiederholte sie die Warnung noch einmal.
»Niemand schlafe unter einem Dach! Der Gott wird das Land erbeben lassen, und die Gebäude werden einstürzen …«
»Helena, deine Kinder … Paris …« Sie packte ihn an den Schultern, aber er stieß sie heftig von sich.
»Genug davon! Ich schwöre dir, Kassandra, ich bringe dich zum Schweigen! Ich habe zu viele deiner schlimmen Prophezeiungen gehört. Ich werde es mit meinen Händen tun!«
Er umklammerte ihren Hals. Ihr schwand das Bewußtsein, und beinahe mit Erleichterung spürte sie, wie sie inmitten von blendendem Licht, das irgendwo in ihrem Kopf aufflammte, in der lauernden Dunkelheit versank.
Ihr Hals schmerzte; sie griff mit zitternder Hand danach. Eine sanfte Stimme sagte: »Bleib still liegen. Trink einen Schluck.«
Sie schluckte etwas Wein, hustete und würgte, aber die Hand blieb am Mund, bis sie noch einmal trank. Der Wein brachte sie wieder zu Bewußtsein. Sie lag auf den Steinen; der Kopf schien von einer Axt gespalten worden zu sein. Aeneas beugte sich über sie und sagte: »Es ist alles gut. Paris wollte dich erwürgen. Aber Hektor und ich haben es verhindert. Wenn jemand verrückt ist …«
»Aber ich muß mit ihm sprechen«, beharrte sie. »Es geht um seine Kinder …, um Helenas Kinder …«
»Es tut mir leid«, sagte Aeneas. »Priamos hat angeordnet, daß alle im Palast zu Bett gehen. Er sagt, du hast sie zu oft verwirrt. Er hat verboten, daß jemand auf dich hört. Aber wenn es dich tröstet, ich habe Kreusa befohlen, mit unseren zwei Töchtern im Hof zu schlafen. Ich glaube, auch Hektor hört auf dich, denn er sagt, gleichgültig, was du über die Götter weißt oder nicht weißt, von Schlangen verstehst du etwas. Trink noch einen Schluck Wein, dann bringe ich dich in den Tempel zurück. Wenn du willst, kannst du auch hierbleiben und bei Kreusa und den Kleinen schlafen.«
Kassandra hörte die Liebe in seiner Stimme und hätte am liebsten geweint. Sie wußte, es war die Liebe, nicht der Glaube an ihre Warnungen, die ihn so freundlich sein ließ. Sie stand auf und hatte das Gefühl, ihr seien alle Knochen im Leib zerschlagen worden.
»Ich muß zurück«, flüsterte sie, »zu den anderen im Tempel, zu den Schlangen und zu meiner Tochter …«
»Ach ja, Kreusa hat mir von deinem kleinen Mädchen erzählt. Ich nehme an, es ist ein Findelkind?«
»Ja, so ist es. Aber woher weißt du das?«
»Ich kenne dich zu gut, um zu glauben, du würdest deiner Familie Schande machen und ein Kind bekommen, solange du nicht ehrbar verheiratet bist«, sagte er, und sie dachte: Selbst meine Mutter hat mir nicht so vertraut wie er.
»Nun ja, begleitest du mich hinauf?«
»Mit Freuden«, sagte er. »Aber du bist ohne einen Mantel davongelaufen. Ich will dir einen holen, sonst wirst du frieren.« Er kam mit einem langen, dicken Umhang zurück, den sie schon an Kreusa gesehen hatte, und sie hüllte sich darin ein. Die Nacht war kühl, und sie zitterte sogar in dem warmen Umhang - allerdings weniger vor Kälte als vor einer unbestimmten Gefahr, die immer noch in der Luft lag. Sie schien zu hören, wie die Erde tief im Innern unter einem Gewicht stöhnte, das unerträglich schwer auf ihrem Geist und ihrem Herzen lastete. Sie brachte kaum die Kraft auf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und sie stützte
Weitere Kostenlose Bücher