Die Feuer von Troia
sich auf Aeneas’ Arm. Als er sich zu ihr beugte, um sie zu küssen, entzog sie sich ihm.
»Nein, nicht«, sagte sie. »Du solltest zurückgehen - du hast eine Frau und ein Kind, um die du dich kümmern mußt, wenn es soweit ist …«
»Erinnere mich nicht daran«, bat er und zog sie wieder in seine Arme. Nach einem kurzen Schweigen sagte er: »Ich liebe dich, Kassandra.«
Er berührte sie sanft auf die Art, die Kassandra so verwirrte, und sie löste sich von ihm.
Zärtlich sagte er: »Meine arme kleine Geliebte. Ich schwöre dir, wenn ich das Recht hätte, würde ich Paris dafür verprügeln, daß er dir so weh getan hat. Wenn’ er es noch einmal versucht, wird er feststellen, daß er noch nie etwas Gefährlicheres in seinem Leben gewagt hat. Das schwöre ich dir! Er hat kein Recht, dir Vorschriften zu machen.«
»Das ist ihm nicht klar«, entgegnete sie. Sie standen vor dem großen Bronzeportal des Tempels, aber Kassandra verabschiedete sich noch nicht. Sie setzte sich auf eine niedrige Mauer und sagte: »Ich bin nicht verheiratet, und so hält mein Bruder es für sein Recht, mich wie ein Kind zu behandeln. Ich nehme an, für jemanden, der nicht hört und sieht, was ich höre und sehe, müssen meine Prophezeiungen verrückt klingen. Die Leute schützen sich, indem sie sich weigern, daran zu glauben. Ich bin ebenso bereit wie jeder andere, etwas beiseite zu schieben, was ich nicht wissen will.«
»Ja, das habe ich erlebt«, bestätigte Aeneas sanft und vielsagend. Er zog Kassandra an sich und hüllte sie in seinen Mantel. Sie ließ sich von ihm küssen, aber sie seufzte traurig, und er ließ sie wieder los. »Vielleicht sprechen wir morgen darüber.«
»Wenn es einen Morgen gibt«, sagte sie so erschöpft, daß er sie erstaunt ansah.
»Wenn es keinen Morgen geben sollte, werde ich noch über den Tod hinaus bedauern, daß ich deine Liebe nie kennengelernt habe«, sagte er so leidenschaftlich, daß sich Kassandras Herz zusammenkrampfte, als werde es von einer Hand fest umschlossen.
Sie flüsterte: »Ich glaube, ich würde es auch bedauern. Aber ich bin so müde . .«
Er küßte sie sanft und sagte: »Dann, Geliebte, laß uns beten, daß es einen Morgen gibt.« Er ließ sie gehen. Die Last der zitternden Welt fühlte sich an, als stehe die Erde im Begriff zu bersten und auf ihren gequälten Kopf zu stürzen, während sie ihm nachsah.
Im Tempel schliefen die Menschen in Decken gehüllt in den Höfen. Alles wirkte ruhig und friedlich. Nur in Kassandras Kopf hämmerte es so heftig, daß sie bei jedem Schritt glaubte, über stürmische Wellen zu gehen. Sie lief zum Hof der Schlangen, denn dort schliefen die Kinder. Kassandra legte sich neben. Biene und nahm das Kind in die Arme. Sie stellte sich die Erde als eine große Schlange vor, die sich um die Hüfte der Erdmutter ringelte - eine große, stattliche Frau wie Königin Imandra. Die Erde unter ihr schien sich sanft zu wiegen, und beim Einschlafen erwartete sie beinahe, die Schlange werde sich auch um sie ringeln.
Stattdessen schien sie durch Wolken zu schweben, durch endlose Wolkenfelder und einen weiten Himmel zu fliegen. Schließlich landete sie unbemerkt auf einem großen Berg, und sie wußte, sie stand allein auf dem Gipfel des verbotenen Berges, auf dem die Götter der Achaier sich versammelten. In der Ferne hörte sie Donnergrollen, während SIE miteinander sprachen. Kassandra sah den Donnergott Zeus, einen großen, eindrucksvollen Mann in der Blüte des Lebens mit einem dichten grauen Bart. Um seine Haare schienen kleine Blitze zu zucken, als er sprach.
»Dieser alberne Zweikampf zwischen Paris und Menelaos ist vorüber, und Menelaos hat eindeutig gewonnen. Ich schlage vor, WIR beenden diesen törichten Krieg und widmen uns wieder UNSEREN eigentlichen Aufgaben.«
»Wie kannst du behaupten, Menelaos sei der Sieger, obwohl er Paris nicht getötet hat?« fragte Hera. Sie war eine große, kräftige und majestätische Frau. Ihre Haare wirkten wie eine Krone. »Ich bestehe darauf, daß Troia zerstört wird. Seine Herrscher und sein Volk dienen mir nicht. Ich bin die Schutzgöttin der Ehe. Paris hat mich persönlich beleidigt. Er ist nach Troia geflohen, und dort hat man Helena als seine Gemahlin aufgenommen, ohne mir zu opfern oder die richtigen Rituale zu vollziehen.«
»Sie huldigen mir, und ich habe ihre Liebe gesegnet«, erklärte eine andere Göttin in schimmernden Gewändern. Rosen schmückten ihr Haar. An der Ähnlichkeit mit Helena erkannte
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