Die Feuer von Troia
entblößt auf dem Kampfplatz lag, und wandte sich ab. Sie hatte am Morgen alle Tränen vergossen, als sie Penthesilea anflehte, nicht zu kämpfen. Jetzt konnte sie nicht mehr weinen.
Sie ging hinauf in den Tempel. In ihrem Zimmer holte sie aus der Truhe den Bogen hervor, den Penthesilea ihr geschenkt hatte. Er war vergoldet und kunstvoll mit Elfenbein eingelegt wie der Bogen des Sonnengottes. Sie wählte einen Pfeil - sie würde ihn vielleicht brauchen, um die Entfernung richtig einzuschätzen -, und in den Köcher steckte sie den letzten vergifteten Pfeil, der noch von Cheiron, dem Kentaur, stammte.
Kassandra stellte fest, daß sie am ganzen Leib zitterte. Sie ging in die Küche hinunter, nahm sich etwas trockenes Brot, ein wenig Honig und zwang sich zu essen. Die Frauen backten gerade und versuchten, Kassandra zu überreden, auf das frische Brot zu warten. Aber außer verdünntem Wein lehnte sie alles ab. Die Frauen waren überrascht, ihre Priesterin bewaffnet zu sehen, unterließen es aber, Fragen zu stellen. Eine ältere Priesterin hatte gute Gründe für das, was sie tat, sei es auch noch so geheimnisvoll oder unverständlich. Man durfte ihr Tun unter keinen Umständen in Frage stellen.
Dann stieg Kassandra langsam hinunter in den geheimsten Raum des Tempels und nahm aus einer Truhe, zu der nur wenige der ranghöchsten Priester und Priesterinnen den Schlüssel besaßen, ein goldgeschmücktes Gewand und die goldene Sonnenmaske. Mit geschulter Ruhe legte sie das Gewand an, setzte die Maske auf und band sie fest.
Sie war nicht ganz sicher, ob das, was sie tat, nicht das schlimmste Sakrileg war - sie dachte an Khryse, der diese heiligen Dinge vergeblich benutzt hatte, uni ein unerfahrenes Mädchen einer Lust dienstbar zu machen, die er anders nicht befriedigen konnte -, oder ob sie der Ehre Apollons diente, indem sie tat, was der Gott hätte tun sollen.
Auch Sandalen gehörten zu dem Gewand - vergoldete Sandalen mit kleinen goldenen Flügeln an den Fersen. Kassandra zog sie an und band sie fest. Sie wünschte, sie wäre wirklich geflügelt, damit sie über das achaische Lager fliegen könnte. Ruhig stieg sie auf die Plattform hinaus und dachte daran, wie Khryse dort als Verkörperung Apollons gestanden und die Pestpfeile in das achaische Lager geschossen hatte. Khryse hatte auch mit Apollons Stimme gesprochen.
Die Leichen der Amazonen lagen unter Schwärmen von Fliegen. Die troianischen Streitwagen und die Truppen, die an diesem Morgen aufmarschiert waren, hatten sich hinter die Mauern zurückgezogen. Achilleus stolzierte, umgeben von seiner Leibwache, so nah, wie er es wagen konnte, vor dem Stadttor herum. Offenbar wartete er darauf, daß jemand herauskommen und ihn zum Zweikampf auffordern würde. Sahen seine Männer nicht, daß er die Grenzen von Würde und Vernunft überschritten hatte? Sie huldigten ihm und achteten ihn als ihren Feldherrn!
Kassandra rief nicht, wie Khryse es getan hatte. Apollon trug ihr nichts zu sagen auf. Apollon war der Gott des Gesanges. Aber sie würde jetzt kein Lied singen. Vielleicht würde ein anderer eine Ballade darüber machen, aber nicht mit ihren Worten. Sie spannte den Bogen, zielte auf Achilleus und schoß. Der Pfeil flog nicht weit genug, aber jetzt konnte sie die Entfernung einschätzen. Achilleus hatte den Pfeil nicht gesehen. Er stand herausfordernd vor seinem Streitwagen. Wohin sollte sie zielen? Die eiserne Rüstung schützte ihn überall. Kassandra betrachtete ihn von oben bis unten. Der Helm bedeckte Gesicht und Haare, aber an den Füßen trug er Sandalen mit dünnen Lederriemen. Also gut! Sie zielte auf die Füße. Der Pfeil traf ihn an der nackten Ferse. Offenbar glaubte er zunächst nur, etwas habe ihn gestochen. Er bückte sich, um nach dem Quälgeist zu schlagen. Dann zog er den Pfeilschaft aus der Ferse und hob verwundert den Kopf. Er wollte sehen, wer der Schütze war. Seine Myrmidonen starrten nach oben und wiesen mit den Fingern in die Luft. Die Troianer auf den Mauern hoben die Köpfe, um zu sehen, was die Achaier so in Erstaunen versetzte. Kassandra blieb reglos stehen. Ein senkrecht in die Luft geschossener Pfeil würde sie nicht erreichen - selbst wenn jemand den Mut aufbringen sollte, auf Apollon zu schießen. Sie fühlte sich unverwundbar. Und selbst wenn ein Pfeil durch das blendende Mittagslicht geflogen wäre, sie hatte getan, was sie sich vorgenommen hatte zu tun.
Achilleus starrte immer noch zu dem Schützen hinauf. Offenbar war er sich der
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