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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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seinem Gesicht immer gesehen hatte, waren verschwunden. Jetzt war er der, für den sie ihn von Anfang gehalten hatte. Er breitete die Arme aus, und sie wollte auf ihn zueilen, wie Astyanax auf Hektor zugerannt war.
    Aber Penthesilea hinderte sie daran - oder war es die Jungfräuliche Kriegerin in der Rüstung der Amazone?
    »Nein«, sagte Penthesilea, »nein, Kassandra… noch nicht.« Kassandra suchte verzweifelt nach Worten. Diesen Tempel hatte sie in ihren Träumen gesehen. Sie hatte immer gewußt, daß sie dorthin gehörte. Nicht nur Khryse, sondern alle, die sie liebte, warteten dort auf sie - warteten darauf, daß ihre Stimme den fehlenden Platz in dem großen harmonischen Chor wieder einnahm. »Nein.« Penthesileas Stimme klang traurig, aber unerbittlich. Sie hielt Kassandra zurück wie ein kleines Kind. »Du kannst noch nicht gehen. Du mußt unter den Lebenden noch etwas tun. Du konntest Aeneas nicht begleiten. Du kannst mich nicht begleiten. Du mußt zurück, Kassandra. Es ist noch nicht Zeit für dich. «
    Das wunderschöne Gesicht unter dem schimmernden Helm begann, sich in Strahlen und Funkeln aufzulösen. Kassandra kämpfte darum, das Gesicht nicht aus den Augen zu verlieren. »Aber ich möchte gehen … das Licht… die Musik… «, flüsterte sie.
    Das Licht verblaßte, und Dunkelheit umgab sie. Sie nahm einen schrecklichen Geruch wahr - wie Tod, wie Erbrochenes. Sie lag auf dem Marmorboden im Tempelhof.
    Ich bin also doch nicht tot!
    Sie empfand nur bittere Enttäuschung. Sie bemühte sich krampfhaft, die Erinnerung an das Licht nicht zu verlieren, aber sie schwand bereits. Sie wurde sich der heftigen Schmerzen in ihrem Körper bewußt. Sie blutete und roch das Blut auf dem Gesicht und ihrem Gewand. Der Mann, der sie vergewaltigt hatte, lag besinnungslos halb auf ihr. Er hatte sich übergeben. Das war es, was sie roch! Langsam, als tauche sie aus einer tiefen Trance auf, hörte sie eine bekannte Stimme und sah ein Gesicht: eine Hakennase, ein schwarzer Bart. Dieses Gesicht hatte sie jahrelang in ihren Alpträumen verfolgt.
    Agamemnon zerrte den Mann von ihr herunter und schüttelte ihn wütend. »Ich habe dir gesagt, daß ich sie will!« brüllte er ihn an. »Sie atmet wieder. Wenn du sie umgebracht hättest, hätte ich dir bei lebendigem Leib die Haut abziehen lassen. Du hast gewußt, daß sie durch das Los mir gehört! Aber du wolltest mir zuvorkommen. Du warst schon immer bösartig, Ajax!«
    Kassandra litt Folterqualen - Folterqualen und Verzweiflung.
    Ich bin nicht tot. Die Jungfrau hat mich gerettet … dafür!

16
    Kassandra lag bewegungslos auf der nackten Erde. Sie fühlte sich zu elend, um sich zu bewegen. Hatte sie wieder das Bewußtsein verloren? Sie konnte sich nicht erinnern.
    »Biene?« flüsterte sie mühsam. Die Kehle schmerzte ihr. Keine Antwort. Ihr fiel mit Erleichterung ein, daß Biene Troia mit Aeneas verlassen hatte. Sie war in Sicherheit.
    Ich will nicht mehr leben. Ich möchte zurück zu Penthesilea und Vater. . und der Musik …
    Aber sie spürte ihren Atem, das laute, aufdringliche Klopfen ihres Herzens. Sie würde leben. Was hatte Penthesilea gesagt?  Du mußt dort noch etwas tun …
    Wäre es darum gegangen, für Biene zu sorgen, hätte sie es noch einsehen können. Aber Biene war nicht mehr da. Ihr konnte sie jetzt nicht mehr helfen.
    Weshalb bin ich hier, und alle, die ich liebe, sind dort?
    Undeutlich nahm sie wahr, daß sie in einem großen Zelt lag. Überall standen Truhen mit Gold und Schmuck, lagen Bündel und stapelten sich Sachen: Seide und Stoffballen, kostbare Mäntel, Wandbehänge, Vasen und Geschirr, Säcke mit Getreide und Ölkrüge – der ganze Reichtum der geplünderten Stadt. Inder Nähe lag Andromache unter einer rauhen Decke. Kassandra konnte im Halbdunkel gerade noch ihr Gesicht erkennen. Andromaches Augen waren vom Weinen rot und geschwollen. Sie sah Kassandra an.
    »Oh, du bist wach. Als sie dich brachten, haben sie gesagt, du seist tot. Aber Agamemnon wollte es nicht wahrhaben.«
    »Ich habe nicht daran gezweifelt, tot zu sein«, erwiderte Kassandra, »ich wollte tot sein.«
    »Ich auch«, sagte Andromache, »sie haben mir Astyanax genommen.«
    »Ja, ich weiß. Ich habe ihn gesehen - er rannte in die Arme seines Vaters.«
    Andromache dachte nach. Dann sagte sie: »Ja, ich nehme an, wenn jemand in das Reich des Todes sehen kann, dann du.«
    »Glaub mir, er ist frei und glücklich bei seinem Vater«, beteuerte Kassandra. Ihre Stimme stockte bei der

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