Die Feuer von Troia
Erinnerung. »Ihnen geht es besser als uns. Ich wünschte, ich wäre dort, wo sie sind.«
Sie schwieg und fragte dann: »Warum sind wir hier? Was soll aus uns werden? Wo sind wir?«
»Ich bin nicht sicher. Ich glaube, wir sind am Strand, wo die Achaier ihre Schiffe beladen«, sagte Andromache.
»Hörst du«, flüsterte Kassandra und krümmte sich, »es kommt jemand.« Sie hörte schwere Schritte. Sie hatte die übernatürliche Fähigkeit, die Zwischenwelt zu sehen, verloren. Wieder gefangen in den normalen sterblichen Sinnen, kam sie sich stumpf und elend vor. Sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund. »Gibt es hier Wasser?«
Andromache seufzte, drehte sich um und stand auf. Sie brachte Kassandra einen Krug Wasser, und Kassandra trank, bis der Durst gestillt war. Sie hatte sich zum Trinken aufgesetzt und glaubte, der Kopf würde bersten oder abfallen. Sie gab Andromache den Krug zurück und legte sich völlig erschöpft wieder hin.
Kassandra flüsterte: »Sie haben mich im Tempel der Jungfrau geschändet … « Die Stimme versagte ihr.
Andromache drückte ihr wortlos die Hand.
»Und du? Hat man dir etwas getan?« fragte Kassandra leise. Andromache sah sie an. »Nein, sie haben mich nicht angerührt. Ich nehme an, sie haben mich mitgenommen, weil es ihrem Stolz dient, Hektors Frau als Sklavin zu sehen«, antwortete sie. »Mein Sohn - wäre er der Sohn eines Geringeren gewesen, hätten sie ihn vielleicht am Leben gelassen… « Sie schwieg. »Wie geht es dir? Du bist verletzt…« Sie streckte die Hand aus, als wollte sie Kassandras blutige Stirn berühren, tat es aber nicht. »Hat man dich auch noch geschlagen und nicht nur …«
»Geschändet? Ja«, sagte sie, »ich dachte - ich hoffte, ich wäre tot. Aber aus irgendeinem Grund hat man mich zurückgeschickt.«
Sie dachte wehmütig an Penthesileas Worte: Du mußt dort noch etwas tun. Aber was? Man hätte sie nicht zurückgeschickt nur, um Andromache zu trösten und ihr zu sagen, daß ihr Sohn bei seinem Vater gut aufgehoben war. Was sonst? Konnte sie sich auf irgendeine Weise an Agamemnon rächen? Lächerlich! Die ganze troianische Streitmacht hatte ihn nicht überwinden können. Sie war nur eine verwundete, geschändete Frau.
Eine Gestalt im Zelteingang verdunkelte das Licht. Eine rauhe Stimme sagte: »Hier, da hinein zu den anderen!« Jemand wurde hereingestoßen, taumelte und fiel neben Kassandra auf den Boden: eine kleine, gebrechliche Frau. Sie stöhnte und hob mühsam den Kopf.
»Kassandra? Bist du es?«
»Mutter!« Kassandra setzte sich auf und umarmte Hekabe. »Ich glaubte, du seist tot… «
»Und ich habe gehört, Agamemnon hätte dich genommen… «
»Er beansprucht mich«, sagte Kassandra und versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen, »aber die Schiffe sind noch nicht beladen. Also bleibt uns wenigstens die Zeit, um uns Lebwohl zu sagen.«
»Sie streiten sich immer noch wegen der Beute«, sagte Andromache bitter und umarmte Hekabe ebenfalls. »Dabei geht es auch um uns.«
»Ich weiß nicht, wohin ich komme«, sagte Hekabe, »und auch nicht, wozu ich in meinem Alter als Sklavin noch gut sein soll.«
»Zumindest, Mutter, mußt du nicht fürchten, zu einer Nebenfrau gemacht zu werden«, sagte Andromache.
Hekabe lachte bitter: »Ich hätte nie geglaubt, daß ich noch einmal über etwas lachen könnte. Ihr beide seid jung. Selbst als Sklavinnen findet ihr vielleicht noch etwas Gutes am Leben.«
»Niemals!« widersprach Andromache, »aber wir wollen nicht anfangen, darüber zu streiten, wer am meisten gelitten und in Zukunft zu leiden hat.«
Kassandra erstarrte und flüsterte: »Es kommt jemand.«
Es war Odysseus. Die Wache am Eingang fragte ihn: »Was willst du, Herr?«
»Eine der Frauen da drinnen gehört mir. Ich habe beim Würfeln verloren. Vielleicht ist es aber nicht nur ein Verlust. Meine Frau Penelope wäre wütend auf mich, wenn ich mit einer jungen, hübschen Sklavin nach Hause käme.«
»Oh, welche Schmach«, flüsterte Hekabe und umklammerte Kassandras Hand, »er war so oft unser Gast. Ich kann diese Demütigung nicht ertragen!«
Odysseus kam herein und beugte sich zu Hekabe hinunter. Seine Stimme klang nicht unfreundlich, als er sagte:
»Nun, Hekabe, wie es aussieht, kommst du mit mir. Hab keine Angst, ich habe keinen Streit mit dir und Penelope noch weniger.« Er reichte ihr die Hand und half ihr beim Aufstehen, was Hekabe sichtlich schwerfiel. Dann beugte er sich zu Kassandra hinunter und flüsterte: »Hab
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